„Idomeneo, Re di Creta“, Mozarts Dramma per Musica aus dem Jahre 1781, wurde bereits zu Lebzeiten des Komponisten in zwei Fassungen gespielt und zog später eine Unmenge an Bearbeitungen nach sich, unter anderem auch von Richard Strauss. Von Mozarts hochdramatischer Elettra in „Idomeneo“ zu Strauss’ „Elektra“ ist es musikalisch ein erstaunlich kleiner Schritt. Und in der jüngsten Bearbeitung der Mozart-Oper an der Komischen Oper Berlin wird diese Partie – auch musikalisch – weiter aufgewertet. Leider überzeugt, was als Fassung schlüssig ist, nur wenig in der szenischen Umsetzung.
Ein Floß, auf welches durch ein Leck Wasser tritt, wirkungsvoll zu betrachten in einem als Plafond aufgehängten Spiegel, ist der Einheitsspielort der Handlung. Darauf sitzt der Chor, heutig gewandet, dem Publikum als sein Pendant gegenüber. Noch vor Einsatz der Ouvertüre intoniert ein Herr im (königs-)roten Pullover unter der Anzugjacke a cappella den Idomeneo. Der verwirrte Passagier wird von einer Pflegerin in Orange beruhigt; sie stellt sich später als Double der künftigen Schwiegertochter des Königs von Kreta heraus.
Idomeneos Traumata aus dem eben beendeten trojanischen Krieg zeichnet stellvertretend eine korpulente Frau im schwarzen Paillettenkleid und mit nackten Beinen und Füßen: Elektra, die mithilfe von Idomeneos Sohn Idamante ihren Thonanspruch in Argos durchsetzen will. Idamante aber liebt die als Gefangene aus Troja entführte Prinzessin Ilia, – so will es schon das nach André Campras gleichnamiger Tragédie-lyrique vom Salzburger Kaplan Giambattista Varesco gefertigte Libretto.
In einem Seesturm hat der kretische König dem Meergott Poseidon gelobt, den ersten Lebenden an Land zu opfern, – und dies ist sein Sohn Idamante. In der Inszenierung von Benedikt von Peter hat Idamante mit Ilia bereits einen etwa zehnjährigen Sohn, – obgleich sich beide erst viel später in der Opernhandlung ihre Liebe gestehen. Dieser Enkel des Königs schafft optisch den Bezug zu dem von Idomeneo zu opfernden Kind. Der geistig verwirrte Idomeneo erlebt die gesamte, ins Heute verlagerte Handlung als eine Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart, Realität und (nicht sehr erschreckenden) Angstbildern.
Die Tenorpartien des Vertrauten des Königs, Arbace, sowie die des Oberpriesters, sind in der Berliner Neufassung elimniniert. Die Gesangslinien (aber nicht Arbaces Arie) übernimmt zum Teil Elektra. Das Bass-Orakel aus der Unterwelt, welches das gegenüber der französischen Vorlage ergänzte Happyend einleitet, erklingt hier als Sopran-Unisono des Kinderchors im Rang des Opernhauses.
Da Elektra in dieser Fassung nicht nur in den Visionen Idomeneos optisch zugegen ist, sondern sich auch akustisch – höhnisch lachend und auch Rezitative singend – in den Handlungsfluss mischt, entsteht strukturell ein weit über Mozarts Dramaturgie hinausweisendes, der Moderne verpflichtetes Musiktheater, gut singbar in der neuen deutschen Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze, mit zumeist zwingenden Betonungen.
Die Aufführung verzichtet auf Ballett und Pantomime. Mit diversen stummen Szenen und Sturmgeräuschen, sowie mit einigen eingefügten Rufen und Sprechtexten, kommt sie, trotz deutlicher Kürzungen – bei nur einer Pause inmitten des zweiten Aktes – doch auf dreieinhalb Stunden.
Das Auf- und Abtragen und Werfen von Stühlen im Niemandsland des Einheitsspielortes (Bühnenbild: Annette Kurz) ermüdet und verweist auf einen Mangel an szenisch zwingenden Einfällen. Poseidons Ungeheuer scheint in dieser Inszenierung kein Zunami, sondern Idomeneo selbst zu sein, auch wenn darüber hinaus, bei der Erwähnung der bedrohlichen Bestie, das Licht auf der Seitenbühne bedrohlich flackert; aber so flackert es auch im Hintergrund, wenn Elektra, die als Tochter Klytemnestras offenbar auch zauberisch begabt ist, beschwörend die Arme hebt.
Der Moment der Verhinderung der Opferung Idamantes durch Idomeneo wird durch ein Orchester-Blackout lange hinausgedehnt: Idamenate und Ilia, zuvor schwarzweiß gedresst, schlüpfen während dessen in die farbigen, heutigen Klamotten ihrer Doubles, bevor sie im Schlusschor, von Idomeneo geleitet, als neues Königspaar auf die Stühle steigen. Das letzte Wort hat gleichwohl der titelgebende König mit einem Entsetzensschrei: obgleich Elektra ihren Tod im Wasser gesucht hatte, sieht er sie am Ende, erhöht, seinen Enkel umarmend.
Mit Auftritten in den Logen, sowie neben auf und auf dem Floß, etwa auf den Stühlen in sanftem Wellengang wippend, ist der Chor der Komischen Oper Berlin diesmal darstellerisch unterfordert.
Patrick Lange leitet das Orchester, mit einigen Intonationsschwankungen der Streicher, wirkungsvoll im Wandel der Affekte. Das in seiner Stimmungsdiskrepanz gegensätzlicher Gefühle kulminierende Quartett von Ilia, Idamante, Elektra und Idomeneo, im dritten Akt, ist ein Höhepunkt des Abends. An musikalischer Dichte überboten wird es nur durch die finale Rachearie der Elektra.
Der mit einem Palmenzweig im Miniblumentöpfchen zwischen Sieg oder Frieden changierende König ist stimmlich bei dem kernig lyrischen Tenor Rainer Trost gut angesiedelt. Stimmlich überzeugende Charakterstudien liefern Brigitte Geller als kraftvolle Ilia und Karolina Gumos, facettenreich und glaubhaft in der Hosenrolle des Idamante, der in der Uraufführung von einem Kastraten verkörpert wurde. Den meisten Applaus bei der ausverkauften Premiere (mit lichteren Reihen nach der Pause) erntete die schwedische Sopranistin Erika Roos, obgleich ihre Spitzentöne nicht immer zufriedenstellen und die Schlussarie der Elektra durchaus noch mehr dramatischen Pep haben könnte.
Weitere Aufführungen: 20., 29. Mai, 2., 12., 25. Juni,. 15. Juli 2011