Karl Valentins berühmtes Diktum, demzufolge Kunst schön sei, aber viel Arbeit mache, meinte hauptsächlich das Verfertigen derselben. Einiges spricht dafür, es auch auf die Anstrengung zu beziehen, die es kosten kann, sich ihr auszusetzen. Folgt man der Argumentation des Musikjournalisten und Autors Holger Noltze, liegt in dieser Anstrengung gar der Schlüssel für eine dem Gegenstand angemessene Rezeption. „Gute Musik richtig hören ist schön, macht aber viel Arbeit“: Auf diese Formel könnte man die Grundthese seines jüngst erschienenen, höchst lesenswerten Essays verkürzen, würde man sich damit nicht gleich jener Sünde schuldig machen, die er zum Buchtitel erhoben hat: der „Leichtigkeitslüge“. [Aus nmz 11-2010]
Die Grundthese Noltzes rührt dabei an einen Kern dessen, was man gemeinhin unter dem Begriff des „klassischen Musikbetriebs“ subsumiert. Diesem stellt sich nicht erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts, aber seither doch verstärkt die Frage nach seiner Zukunft, wobei je nach Blickwinkel auch gleich die Zukunft der Musikkultur insgesamt mitgedacht ist: Was wird von deren Institutionen, was von deren Publikum in 50, was in 100 Jahren noch übrig sein? Während diese Fragen von den Vertretern des Musikbetriebs meist unter quantitativen, weil existenzgefährdenden Gesichtspunkten betrachtet werden (wie viele Opernhäuser und Orchester, wie viele CD- oder Instrumenten-Käufer mögen übrigbleiben…) und Gegenmaßnahmen ein entsprechendes Ziel haben, geht Holger Noltze der im Grunde weitaus gravierenderen Frage nach: wie wird es künftig um die Qualität des Betriebes als Transporteur künstlerischer Substanz bestellt sein?
Noltze stützt seine wohlbegründete Skepsis auf eine Diagnose gegenwärtiger Zustände, in deren Mittelpunkt – man ahnt es – der in seinen Augen fehlgeleitete Begriff der Vermittlung und somit die These steht: „‚Leichtigkeitslüge’ meint, dass der grundsätzlich richtige Gedanke, Kunst bedürfe, weil sie ihrem Wesen nach komplex ist, der Vermittlung, in unguter Praxis dazu geführt hat, Vermittlung mit Vereinfachung zu verwechseln.“(1) Das sitzt. Nicht bloß deshalb, weil es, wie das Buch insgesamt, ausgezeichnet formuliert ist, sondern weil hier ein Unbehagen auf den Punkt gebracht ist, das sich seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten her regt (siehe auch unsere Kandidaten zum Musik-Unwort des Jahres auf Seite 7).
Wo Noltze die Leichtigkeitslügner aufzuspüren gedenkt, macht seine zweite Hauptthese deutlich, die in Sachen rhetorischer Würze noch eine Schippe drauflegt: „Wir befinden uns, was Verständnis und Aufnahmefähigkeit für Kunst und Kultur angeht, in einer Verblödungsspirale, die mit dem Versagen des Bildungssystems, spezifischen Funktions- und Wirkungsweisen der Massenmedien und der fortschreitenden Ökonomisierung der Gesellschaft zu tun hat.“
Zu lesen, wie Noltze die Bereiche Bildung, Medien und Musikwirtschaft auf ihre Mechanismen der Komplexitätsvermeidung („geistige Ersparungsangebote“) hin seziert, ist eine wahre und deshalb zugleich bittere Freude. Selten sind in jüngerer Zeit die im Einzelnen nicht neuen Befunde so prägnant dargestellt und aufeinander bezogen worden.
In zwei entscheidenden Punkten aber greift Noltze zu kurz: seine Analyse der Musikvermittlung im engeren Sinne einer Konzertpädagogik ist ebenso oberflächlich wie die am Ende seiner Betrachtungen angebotenen Auswege aus der von den „furchtbaren Vermittlern“ (Noltze) angerichteten Misere philosophisch vage bleiben.
Zwar kann man dem Autor nur zustimmen, wenn er die Dürftigkeit mancher Vermittlungsangebote süffig anprangert: „Misst man die Vermittlung an der ‚Höhe’ oder auch ‚Tiefe’ des Gegenstands, ist die Bilanz oft ernüchternd: Unter dem munteren Schall der Vermittlungs-Posthörner trifft der Wagen beim Adressaten ein. Doch das Päckchen, das man ausliefern wollte, ist unterwegs von der Ladefläche gefallen.“ Die Frage aber, wie für die verschiedenen (Alters-)Zielgruppen der nicht mehr weiter zu reduzierende Kern eines musikalischen Kunstwerkes zu definieren wäre, hinter dem zurückzubleiben ein Scheitern jeder Vermittlungsbemühung bedeuten würde, schiebt er in eine Anmerkung ab.
Für ein Kind, das zum ersten Mal ein volles Orchester hört, kann aber dessen pure Klangentfaltung im Tutti, für ein anderes eine einzelne Oboenmelodie dieser Kern sein; dass es deswegen noch nicht deren Funktion im Zusammenhang eines Symphoniesatzes erfasst haben muss, um eine für diesen Moment gültige ästhetische Erfahrung zu machen, verkennt Noltze, der lediglich konzediert, „ein paar Takte genialer Musik oder jedenfalls ‚schöner Stellen’, könnten „als ‚Einstiegsdroge’ funktionieren“.
Ob von Noltzes dennoch schmerzhaft notwendigem Buch die wünschenswerten Impulse ausgehen werden, dürfte also auch davon abhängen, ob die nicht durchweg selbstkritische Zunft der Musikvermittler seine Provokationen ignoriert und weiterhin nach dem Motto verfährt „Wer vieles bringt…“ oder die Herausforderung einer echten Qualitätsdebatte endlich annimmt. Dass ausgerechnet jene Stiftung den Essay in ihrem Verlag publiziert, die sich des Themas mit Symposien und einer eben angelaufenen „Masterclass on Music Education“ intensiv angenommen hat, gibt Anlass zur Hoffnung. Und was Noltzes niederschmetternde Diagnose betrifft, so suchen wir einstweilen Trost beim Philosophievermittler Karl Valentin: „Hoffentlich wird es nicht so schlimm wie es schon ist!“
(1) Holger Noltze: „Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität, Hamburg, edition Körber-Stiftung, 2010