Ludwig van Beethoven schrieb nur eine Oper – von der aber drei Versionen. Sie wurden allesamt im Theater an der Wien uraufgeführt: 1805, 1806 und 1814. Nun hat Nikolaus Harnoncourt, der Grandseigneur der Alten Musik und des intelligenteren musikalischen Historismus, mit Juliane Banse als Leonore/Fidelio, das Schreckens-, Rühr- und Rettungsstück am Originalschauplatz herausgebracht – in seiner dritten Version.
Die war freilich einst nur unter vielen Kompromissen zustande gekommen; dies blieb dem Komponisten fortdauernd eine Anfechtung. Was er „wirklich wollte“, lässt sich nicht mehr in Erfahrung bringen, da Rückfragen nicht mehr möglich sind. Harnoncourt vertritt die Auffassung, dass nur ein Kompilat aus allen drei Fassungen einen idealen „Fidelio“ schaffen könnte. Er „habe erwogen, das zu machen“, räumte er im Vorfeld der Wiener Premiere ein, „die Aufgabe war aber zu groß für mich“. So versuchte er es denn neuerlich mit der zweiaktigen Fassung von 1814.
Scharf werden die Tempo-Kontraste gegeneinander gerieben – mit bloßen Händen und mit den intensivsten Blicken. Auch die dynamischen Gegensätze hebt Nikolaus Harnoncourt mit sparsamster Zeichengebung drastisch hervor: Der Versuch, die Ouverture zum „Fidelio“ so „deutlich wie möglich“ als Werk der drastischen Gegensätze zu würdigen und musikalisch radikal zu „inszenieren“, opponiert gegen klassizistische Konzepte der „Erbepflege“. Das, was der alte Herr mit dem von ihm vor mehr als einem halben Jahrhundert gegründeten Concentus Musicus Wien zelebriert, hat neuerlich etwas durchaus Erfrischendes (und ist eher inspiriert von gewissen „romantischen“ Vorstellungen und der Ausdrucksästhetik des 19. Jahrhunderts als von strengem Rekonstruktionswillen). Der Sound, der sich da im Graben des Theaters an der Wien herausbildet, erfreut sich nicht nur eines großen Fanclubs, sondern scheint sehr viel weitergehend einen Nerv unserer Zeit zu treffen. Es handelt sich ja nicht zuletzt um so etwas wie musikalische Naturkost – durch die Mitwirkung der Naturhörner, der darmbesaiteten Streicher sowie der barock gebohrten und noch fast nicht verklappten Holzbläser. Das Kaufverhalten der Kunden im Theater an der Wien dürfte dem dieser Personengruppe in den Lebensmittelabteilungen der Ladenketten entsprechen: Natürlich ökologisch – und nach dem Motto: „Für uns ist das Beste gerade gut genug“.
Zum Feinsten, was die Palette der Soprangesangskultur deutscher Zunge derzeit zu bieten hat, gehört Juliane Banse – unvergessen als „Schneewittchen“ und als Schumanns Genoveva im Züricher Bankenquartier oder als „Freischütz“-Agathe im Baden-Badener Festspielhaus. Mit ihr schreitet die Historisierung der „klassischen“ Musik nochmals fort. Harnoncourt rechtfertigte die Besetzung der „Fidelio“-Titelpartie mit einer Sängerin, die nur über eine derart kleine Stimme verfügt. Beethoven hätte für alle seine großen Werke „ganz junge Sängerinnen gehabt“. Der freihändig argumentierende Historist ist sich schon von daher sicher, dass „man … auch nicht so laut gesungen“ habe „wie heute“. Das Problem ist nur, dass wir nicht mehr die Ohren von 1814 haben, sondern die von 2013. Und die bemerken dann schon das allzu angestrengte stimmliche Bemühen der Primadonna. Als Figur, d.h. als strebsamer und effektiver junger Mitarbeiter im Strafvollzug, wirkt sie höchst stimmig.
Herbert Föttinger ist das, was in Wien ein „beliebter Volksschauspieler“ genannt wird, und seit 2006 Künstlerischer Leiter des Theaters in der Josefstadt sowie seit vorigem Jahr Kammerschauspieler. Er inszenierte die große Schreckens-, Rettungs- und Freiheitsmetapher quasi-realistisch in einem Gefängnis-Ambiente und mit Uniformen, die erkennbar auf die DDR der 60er und 70er Jahre anspielten. Wobei korrekterweise und zur Ehrenrettung des untergegangenen deutschen Teilstaats gesagt werden muss, dass in ihm die Gouverneure nicht einfach auf dem Zuchthaushof missliebige Häftlinge mit der Pistole niederstreckten, sondern dass dort Hinrichtungen unangekündigt und überraschend durch Schuss von hinten erfolgten.
Den hypertrophen Schluss des Werks zeigt der als Regisseur nicht ausgebildete Föttinger als Jubiläums-Konzertveranstaltung, just so, wie dies Herbert Wernicke bereits exemplarisch 1996 bei den Salzburger Festspielen getan hatte. Also auch auf dieser Ebene: Historisierung. In ihr bestreitet Michael Schade die Partie des Don Florestan mit kernigem, sympathischem Tenor. Lars Woldt erscheint als Inkarnation des DDR-Vollzugsbeamten. Anna Prohaska als seine Tochter ist das Tüpfelchen aufs i des naiven Realismus – aber ein allerliebstes und stimmkompetentes.
Harnoncourt treibt den von Erwin Ortner einstudierten Schönberg-Chor zu einem extrem lauten und schnellen Lobpreis der Rettungstat, der Freiheit überhaupt und der Gattenliebe im Besonderen. Bleibt als Nachhall des „Fidelio“-Premierenabends im inneren Ohr das intendierte Espressivo von Chor und Orchester: Die Töne mit der Patina hört man wohl, allein: es fehlt der Glaube, dass ein Äußerstes an Ausdruck sich ausgerechnet mit den restringierten Mitteln des technisch unentwickelten Instrumentariums ereignet. Der Rezensent empfiehlt die zuverlässige Arbeit mit den symphonisch trainierten „klassischen“ Klangkörpern. Von denen steht ja in Wien der eine oder andere zu Verfügung.