Der aus Gent gebürtige Franko-Flame Alexander Agricola (1446–1506) war als Sänger und Komponist so begehrt, dass sich mehrere europäische Höfe um seine Dienste rissen. Als er 1491 ohne Urlaub nach Florenz reiste, schickte ihm der französische König einen Boten hinterher, der ihm die Heimkehr befahl. Die Musikgeschichte hat die Werke des „göttlichen Alexander“, wie ein Zeitgenosse ihn titulierte, schnell vergessen, sodass sie selbst unter Spezialisten kaum bekannt und auf Tonträgern – mit Ausnahme einer längst vergriffenen CD des Ferrara-Ensembles, die 1990 bei BMG erschien – nicht greifbar sind. Agricolas weltliche Chansons stellen die letzte Blüte des burgundischen Stils dar, während seine Messen und Motetten in ihrer Neigung zur Exzentrik die Ausgewogenheit eines Josquin Desprez vermissen lassen. Gerade die unruhige Launenhaftigkeit, die gegenüber dem avancierteren Josquin gewiss rückwärts gewandte Bizarrerie des Klangs aber ist es, die heute an Agricola fasziniert. Zwei gleichzeitig erschienene, höchst gegensätzliche Einspielungen belegen dies neu erwachte Interesse. Der österreichische Flötist Michael Posch hat mit seinem Ensemble Unicorn ausschließlich weltliche Chansons aufgenommen, der belgische Musikwissenschaftler und Dirigent Paul van Nevel mit seinem Huelgas Ensemble dagegen eine Auswahl geistlicher wie weltlicher Werke vorgelegt, die einen Überblick über das schmale, aber qualitätvolle und originelle Schaffen Agricolas erlauben. Nevel ist von den beiden zudem der nervösere, der wagemutigere Interpret, was der quecksilbrigen, erfindungsreichen, manchmal wie improvisiert wirkenden Musik entschieden zugute kommt. Dies gilt insbesondere für die hier so bezeichnete „Missa Guazzabuglio“, die „Mischmasch“-Messe, eine Kompilation Nevels aus fünf verschiedenen Messen Agricolas. Am nachhaltigsten in Erinnerung bleiben freilich das komplexe „Salve regina“ sowie die im Stil seines Lehrers Ockeghem geschriebenen Chansons: sonore, expressive, vielfach geradezu süffige Lieder, die unmittelbar berühren. Zahlreiche Chansons Agricolas sind ohne Text überliefert . Posch hat sich, wie schon seinerzeit Crawford Young mit seinem Ferrara-Ensemble, für eine rein instrumentale Wiedergabe entschieden, wie sie die Quellen nahe legen. Nevel optiert auf gewiss spekulative, aber doch überzeugende Weise für eine textierte, gesungene Wiedergabe, die seinen exzellenten Vokalisten einiges vom Schwersten abfordert, was die Musik um 1500 technisch zu bieten hat. Vom Repertoire her ergänzen sich die beiden CDs. (Angaben rechts!)
Alexander Agricola: Fortuna desperata (Ensemble Unicorn, Michael Posch) Naxos 8.553840 Alexander Agricola: Ein geheimes Labyrinth (Huelgas Ensemble, Paul van Nevel) Sony Classical SK 60760 Der aus Gent gebürtige Franko-Flame Alexander Agricola (1446–1506) war als Sänger und Komponist so begehrt, dass sich mehrere europäische Höfe um seine Dienste rissen. Als er 1491 ohne Urlaub nach Florenz reiste, schickte ihm der französische König einen Boten hinterher, der ihm die Heimkehr befahl. Die Musikgeschichte hat die Werke des „göttlichen Alexander“, wie ein Zeitgenosse ihn titulierte, schnell vergessen, sodass sie selbst unter Spezialisten kaum bekannt und auf Tonträgern – mit Ausnahme einer längst vergriffenen CD des Ferrara-Ensembles, die 1990 bei BMG erschien – nicht greifbar sind. Agricolas weltliche Chansons stellen die letzte Blüte des burgundischen Stils dar, während seine Messen und Motetten in ihrer Neigung zur Exzentrik die Ausgewogenheit eines Josquin Desprez vermissen lassen. Gerade die unruhige Launenhaftigkeit, die gegenüber dem avancierteren Josquin gewiss rückwärts gewandte Bizarrerie des Klangs aber ist es, die heute an Agricola fasziniert. Zwei gleichzeitig erschienene, höchst gegensätzliche Einspielungen belegen dies neu erwachte Interesse. Der österreichische Flötist Michael Posch hat mit seinem Ensemble Unicorn ausschließlich weltliche Chansons aufgenommen, der belgische Musikwissenschaftler und Dirigent Paul van Nevel mit seinem Huelgas Ensemble dagegen eine Auswahl geistlicher wie weltlicher Werke vorgelegt, die einen Überblick über das schmale, aber qualitätvolle und originelle Schaffen Agricolas erlauben. Nevel ist von den beiden zudem der nervösere, der wagemutigere Interpret, was der quecksilbrigen, erfindungsreichen, manchmal wie improvisiert wirkenden Musik entschieden zugute kommt. Dies gilt insbesondere für die hier so bezeichnete „Missa Guazzabuglio“, die „Mischmasch“-Messe, eine Kompilation Nevels aus fünf verschiedenen Messen Agricolas. Am nachhaltigsten in Erinnerung bleiben freilich das komplexe „Salve regina“ sowie die im Stil seines Lehrers Ockeghem geschriebenen Chansons: sonore, expressive, vielfach geradezu süffige Lieder, die unmittelbar berühren. Zahlreiche Chansons Agricolas sind ohne Text überliefert . Posch hat sich, wie schon seinerzeit Crawford Young mit seinem Ferrara-Ensemble, für eine rein instrumentale Wiedergabe entschieden, wie sie die Quellen nahe legen. Nevel optiert auf gewiss spekulative, aber doch überzeugende Weise für eine textierte, gesungene Wiedergabe, die seinen exzellenten Vokalisten einiges vom Schwersten abfordert, was die Musik um 1500 technisch zu bieten hat. Vom Repertoire her ergänzen sich die beiden CDs. (Angaben rechts!)Hauptrubrik
Musikalischer Irrgarten
Untertitel
Alexander Agricola: Fortuna desperata (Ensemble Unicorn, Michael Posch) Naxos 8.553840
Body
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!