An solch einem Abend gibt es die eigentliche Oper vor der Oper. In schneeweißem Anzug rauscht der Noch-Intendant in seine Loge, ein Kamerateam folgt auf dem Fuße und der Saal applaudiert, als gelte es einem König oder Regierungschef zu huldigen. Ein Opernkönig ist Alexander Pereira ja zweifellos, allein schon weil er 21 Jahre lang putschlos durchgehalten hat! Auf der Hinterbühne des Zürcher Opernhauses geht es rund viereinhalb Stunden später munter weiter mit den Festivitäten. Bei Maultaschen und Hochprozentigem wird das scheidende Oberhaupt bejubelt, besonders berührend Thomas Hampsons Eloge auf den „besten Intendanten in der ganzen Welt“ (in schön akzentuiertem Deutsch) und die warmen, sehr persönlichen Worte von Chefdirigent Daniele Gatti (in radebrechendem Englisch).
So ganz in Feierlaune war man freilich nach diesem musikalisch außergewöhnlichen, szenisch jedoch kaum genießbaren Abend nicht. Aber der Reihe nach.
Paul Hindemiths Oper wurde 1938 in Zürich uraufgeführt, nachdem sich der Komponist mit dem deutschen NS-Regime – mehrfach – überworfen hatte und sogar eine Intervention Wilhelm Furtwänglers nichts half. Mathis ist Matthias Grünewald. Hindemith schrieb selbst das Libretto, eine ursprünglich geplante Zusammenarbeit mit Gottfried Benn scheiterte.
In sieben teils ausschweifenden Bildern verschaltet Hindemith historische Ereignisse (die Bauernkriege) mit einer Liebesgeschichte, es gibt Reflexionen über die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft und Fragen nach Inspiration, Genieästhetik und Spiritualität. Bücher werden verbrannt, Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten ausgefochten, schlussendlich erkennt der vorher nicht nur politisch sehr engagierte Mathis das Weh und Ach allen weltlichen Daseins, vollendet den Isenheimer Altar und wird hernach zum Einsiedler.
Ein schwer inszenierbarer Stoff, zweifellos. Was macht nun der amtierende, offenbar nicht ausgelastete Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann? Er verlegt – wieder einmal – alles in ein abstraktes, schwarz-weißes Bühnenbild (Johannes Schütz) mit Kästen und Wandteilen. Das Opernpersonal agiert in uninspiriert zeitlosen Mischmaschkostümen (Victoria Behr), alberne Videoprojektionen zeigen Teile des Isenheimer Altars, aber auch unheimliche Erscheinungen, die Mathis heimsuchen und läutern. Über weite Strecken fehlt jegliche Personenführung, Thomas Hampson grimassiert und durchleidet die Titelpartie, als ob er Mahlers Kindertotenlieder sänge, die Damen des Stücks liegen am Boden und/oder beten, der Klerus agiert mit hohlen Pathosgesten und die umfangreichen Chöre wirken wie vom seligen Wolfgang Wagner höchstpersönlich animiert… Matthias Hartmann hat nicht nur in Zürich schon sehr konzentrierte Arbeiten vorgelegt (etwa Eugen d’Alberts „Tiefland“), sein „Mathis“ jedoch ist unmotivierter Schnickschnack.
Bleibt also die Musik. Neben einigen schön durchgestalteten Interludien verwendet Hindemith einen Rezitationsstil (reine Diatonik), der einem rasch auf die Nerven gehen kann. Daniele Gatti gelingt es über weite Strecken, das Aufgewühlte und das Karge zusammen zu binden und die Spannung zu halten. Zwar gibt es ein paar Mal die üblichen Schrullen – ein orchestrales Überholen von Solisten und Choristen oder Gattis Mitzischen leiser Stellen – insgesamt gelingt jedoch der große Bogen.
Thomas Hampson arbeitet sich bis auf wenige, dann aber sehr schmerzhafte Momente, mit Wohlklang durch seine Partie. Reinaldo Macias gibt den zentralen Kirchenfürsten (Albrecht) mit metallisch konzentriertem Timbre, Emily Magee (Ursula) und Sandra Trattnigg (Regina) bewältigen die beiden wesentlichen Frauenrollen exzellent. Überhaupt ist das gesamte Ensemble sehr homogen, auch die von Jürg Hämmerli einstudierten Chöre überzeugen.
Angesichts von Hartmanns banaler Teflon-Inszenierung heißt es in Zürich also wieder einmal: Prima la musica!