„Auch Riesen haben klein angefangen…“ geht dem Musik- und Opernliebhaber unweigerlich durch den Kopf, wenn da vorne auf dem Konzertpodium ein etwas kunterbuntes Allerlei mal tost, mal wabert… und dann auch dahinplätschert und -lätschert…
Mitten im beginnenden Biedermeier, umgeben von „Gartenlaube“ einerseits und zunehmend radikalem, echtem Liberalismus des „Jungen Deutschland“ andererseits ist da 1836 ein 23 Jahre junger, aufstrebender Kapellmeister und Komponist namens Richard Wagner natürlich ganz auf der Seite der „Zukunft“, des „Fortschritts“ und des Tabu brechenden Anrennens gegen „alles Bestehende“ – 12 Jahre später wird er als Königlicher Kapellmeister in Dresden auf den Revolutionsbarrikaden stehen.
Jetzt entdeckt er in Shakespeares „Maß für Maß“ ein ihn bis ans Lebensende beschäftigendes Thema: Liebeshändel und Liebeswandel bis hin zur „freien Liebe“ gegenüber sog. bürgerlicher Moral, Tugend und vor allem Konvention. Er schreibt sein eigenes Libretto, doch bleiben Komik und Humor noch recht treu-deutsch. Dass ausgerechnet der deutsche Statthalter Friedrich in Palermo ein Karnevals- und Liebesverbot erlässt, sich prompt aber selbst so leidenschaftlich verliebt, dass er sein eigenes Gesetz bricht, und letztlich alle Männer von lauter liebenden Frauen, die sich mal vorübergehend als Novizinnen ins Kloster geflüchtet haben, zu „Liebe und Leben“ bekehrt werden – das wirkt ohne Bühne doch recht steif. Sprachlich „tümelt“ es da doch noch zwischen „Schurkentat“ und „Weiberschmach“, von „Schelmenauge“ zu „Gleisnerstolz“ und „Katzenherz“ oder „Himmelsbraut“.
Musikdramatisch schwerer wiegt, dass der junge Wagner oft „unökonomisch“ komponiert: da legt er über etliche Textzeilen in einem kleinen Arioso lautstark los, so dass man einen Höhepunkt erwartet, doch dann verflacht alle Expression über weitere Textzeilen hinweg – und anschließend beginnt abermals ein kleines musikalisches Wabern und Wummern.
Andererseits gab es im ausverkauften Prinzregententheater vielfach erfreuten Zwischenapplaus, denn die heftig wallenden Gefühle klingen oft flott, eingängig und melodiös, so dass schon der normale Opernfreund denkt: „Das war doch eben wie in Bellinis „Norma“!? – Und das erinnert an Mozarts „Figaro“! – Das an eher an „Fidelio“!“. Und die vielen Wagnerianer im Publikum erkannten natürlich auch musikalische Vorahnungen von „Tannhäuser“, „Lohengrin“ oder Wotans Speer-Motiv.
All das dirigierte Ulf Schirmer mit dem groß besetzten Rundfunkorchester schwungvoll, aber sehr oft zu laut. Dagegen kam der Prager Philharmonische Chor gut an, nicht jedoch alle Solisten. Da stemmte und detonierte Daniel Brenna als zum Tode verurteilter Claudio nicht rundfunkgerecht. Wirklich vokal überzeugen konnten nur der halb-böse Statthalter-Bariton von Tuomas Prusio, das Kammermädchen Dorella der Straubingerin Magdalena Hinterdobler, der leider zu oft orchestral übertönte, agil wankelmütig liebende Luzio-Tenor von Bernhard Berchtold und die eingesprungene, ihre „Tosca“-Erfahrungen mitbringende Erika Sunnegård als gekonnt Intrigen spinnende, aber eben auch von der Liebe überwältigte Isabella.
Was für eine Begabung in diesem 23-jährigen Wagner schlummerte, machte dann ausgerechnet die leiseste Kleinszene deutlich: die enttäuscht und verbittert ins Kloster geflohene Statthalter-Gattin Mariana wird ja von Isabella ins gesetzbrecherische Masken-Rendezvous mit dem eigenen Gatten geschickt – und dafür hat dieser Wagner ihr ein ganz intimes Arioso voll wechselnder Gefühle geschrieben. Marika Schönberg sang das mit schön dunkler Sopran-Innigkeit zum Höhepunkt des Abends. Dafür waren aller Beifall und das anerkennende Nicken von Dirigent Schirmer angebracht. Nur: wäre in der „Wagner-Stadt München“ nicht all der Aufwand eher für eine Einstudierung von „Rienzi“ lohnend gewesen? Oder auch für „Beatrice et Benedict“ des Wagner-Kollegen Hector Berlioz?