Jedes Jahr das Gleiche. Der Branchenverband der Musikindustrie legt Zahlen für das letzte Jahr vor und sagt „Deutscher Musikmarkt 2011 sogar leicht im Plus“. Die Fahrt auf der Achterbahn der Musikindustrie scheint nun die lange Phase der Konsolidierung zu erreichen. Und zwar auf dem halben Niveau seiner besten Zeit. Grund zur Beruhigung? Grund für einen neuen Aufbruch?
In der Tat bricht der Verlauf physischer Tonträger längst nicht vollkommen zusammen. Immer noch werden ca. 83 % der Verkäufe vom Verkauf „harter“ Tonträger erbracht (CD allein 73,8% - 1,098 Mrd. Euro). Digitale Musikverkäufe legten dagegen um 22,1% zu (247 Millionen Euro) zu. Das Angebot für legale Downloads ist mit 70 Anbietern außerordentlich umfangreich. Verstärkt im Markt platzieren sich auch neue Streaming-Angebote. Wenigstens neun Anbieter tummeln sich in diesem Feld. Nationale Produktionen sind gefragt wie nie: Mittlerweile umfassen sie knapp 55% des Marktes. Im Jahr 2002 waren es gerade mal 36%.
Grund zur Freude? Ein bisschen darf sich die Branche freuen. Sie hat vieles richtig gemacht. Das Hauptproblem für die Zukunft ist aber weiterhin, so Dieter Gorny, Vorstandvorsitzender des Bundesverbandes Musikindustrie, die Durchsetzung des Urheberrechts und die Wertschätzung kreativer Arbeit: „Dennoch sind wir von einer echten Trendwende immer noch weit entfernt, solange die legalen Musikangebote weiterhin mit den massenhaften illegalen Umsonstangeboten im Netz konkurrieren müssen. … Das geistige Eigentum ist der maßgebliche Rohstoff in Deutschland und damit Grundlage unserer kulturellen Vielfalt und wirtschaftlichen Prosperität. Gerade in einer zunehmend digitalisierten Welt brauchen wir ein durchsetzungsstarkes Urheberrecht, denn es ermöglicht den Autoren, Kreativen und Künstlern sowie deren Partnern, von ihrem Tun auch zu leben. Die Forderung, Kultur im Internet gratis konsumieren zu können, mag aktuell populär sein, ist aber genauso realitätsfern. Die Vorschläge pauschaler Vergütungsmodelle lassen häufig den mangelnden Respekt vor der kreativen Leistung der am Schaffensprozess beteiligten Personen erkennen, und auch Finanzierungen mit dem Klingelbeutel im Netz taugen nicht als allgemeingültiges Wirtschaftsmodell für die Künstler und Kreativen.“
Gorny fordert die Politik auf, diese Probleme anzugehen. Er wirft der Politik vor, sich vor den Problemen wegzuducken. Kennzeichen dafür sei beispielsweise, dass innerhalb der Regeirung, sogar innerhalb einer Partei, verschiedene Positionen erarbeitet oder verworfen werden. Während eine Studie im Bundeswirtschaftsministerium zu dem Ergebnis komme, ein Verwarnsystem für Urheberrechtsverletzungen sei sinnvoll und praktikabel, schließe dies das Bundesjustizministerium offenbar kategorisch aus. Die Politik moderiere den Diskurs um diese Fragen nicht, sagt Gorny. Man kann die Sorge der Musikindustrie verstehen.
Gleichwohl dürfte ein vernünftiger und ergebnisorientierter Diskurs schwierig zu führen sein, wenn man den Diskurs in geordneten Bahnen führen will. Dazu wären zuerst ja einige Herrschaftsverhältnisse abzubauen. Die Musikpolitik kann sich dementsprechend nicht allein auf Thesen und Argumente der Musikindustrie verlassen, als stellten sie unabänderliche und unverbrüchliche Rahmenbedingen her. Gorny denkt schon, zumindest in Worten, Netzwelt und Politik zusammen: „Wir alle sind die digitale Gesellschaft“ sagt er, aber er weiß genau, wem dabei die Priorität gehört. In diesem Bereich: den Kreativen. Und das Mittel der Durchsetzung ist das Urheberrecht. „Das Urheberrecht macht den Kreativen autonom“, erklärt Gorny und es ermöglicht ihm, von seiner Arbeit zu leben, zumindest in dem Wirtschaftssystem, in dem wir leben, dem Kapitalismus, wie er freimütig anerkennt. Anderfallls sähe man einer öffentlich-rechtliche Kultur ins Auge, die keiner will, naja, die auf jeden Fall Gorny und sein Verband nicht wollen. Wie die Vision von Kreativität seitens des Verbandes gesehen wird, zeigen die verschiedenen ECHO-Preisgenres. Ein schwieriges Vorbild, um nicht zu sagen: ein schlechtes.
Aber mit dieser Analyse verkennt Gorny die allgemeine Bewegung im Gesellschaftssystem. Wer sagt denn, dass jetzt oder zukünftig die Angebots-Priorität bestehen bleiben muss. In manchen Welten unserer Gesellschaft bestimmen die Nachfrager das Angebot. Ohne Kreative keine Kultur ist ebenso richtig, wie: Ohne Publikum keine Kultur.
Dieser Diskurs wird auf eine sehr unglückliche Art und Weise bislang immer nur binär gesehen und jeweils monokausal. Das scheint aber der fließend sich ändernden Gesellschaft nicht adäquat. Das macht auch ein Blick in die Geschichte deutlich. Auch vor der eigentlichen Konstitution des Urheberrechts als starkem Eigentumsrecht gab es auch Kreativität und die kulturelle Welt ist deshalb nicht untergegangen. Heute geht die kulturelle Welt trotz des Urheberechts ebenfalls nicht unter. Nur wie sich das Verhältnis zwischen Produzent und Konsument realisiert oder realisieren soll, ist momentan eine akut sich stellende Frage. Nicht nur deshalb, aber sehr wohl auch deshalb finden manche Ideen, die die Piraten im Augenblick vertreten, so regen Zuspruch.
Keynote Dieter Gorny im O-Ton:
Nicht zu vergessen, dass das Rechtssystem insgesamt betrachtet werden muss. Nicht das Urheberrecht ist der Kern des Gesellschaftsvertrages, sondern es ist abgeleitet aus anderen höherrangigen Rechten. Man kann da die Büchse des Rechtssystems nicht nur von einer Seite öffnen, wie es Gorny und sein Verband gerne täten.
Die eingeforderte Moderation der Urheberrechtsproblematik durch die Politik ist nichtsdestoweniger ein Kernproblem, das ganz sicher nicht mit einer Enquete-Kommission bewältigt werden kann, zumal der Fluss der Dinge sein eigenes Tempo vorlegt. Die Musikindustrie hat wenigstens einmal schon den Sprung auf den Zug verpasst; ihr jetzt zuzutrauen, Führerschaft in dieser Hinsicht zu übernehmen und das Tempo beliebig vorzugeben, dürfte einigermaßen riskant sein. Dafür zumindest scheint das Gespür im Bundesverband verhältnismäßig wenig ausgeprägt. Das Gespür des Hauches einer Trendwende auf dem Markt der Musikindustrie macht deren Agenten schon wieder übermütig.