Es fing eher unauffällig an. Vor etwa fünfzehn Jahren lud ein erfolgreicher Advokat aus der benachbarten Stadt K. zur Feier seines 50. Geburtstags. Nach dem Glas Champagner zur Begrüßung und wohlgesetzten Worten des Gastgebers delektierte das renommierte Aurel-Quartett. Es servierte Schubert, Janáček und Kurtág und machte richtig Appetit auf die Hummerschwänze.
Die Idee, sich ein dergestalt anspruchsvolles Ständchen zu bestellen, wurde von den kundigen Gästen allgemein goutiert, dem Vorfall des weiteren keine besondere Bedeutung beigemessen. Freilich spielten die vier Prinzen des Geigenbogens auch bei den nächsten passenden Familienfeiern der Familie B. auf und gehören inzwischen gleichsam „dazu“.
Überhaupt kann man heuer kaum noch eine der sich häufenden Einladungen zu 60., 70. oder 80. Geburtstagen in den besseren Kreisen wahrnehmen, ohne sich einer entsprechenden ansprechenden Musikfolge gewärtigen zu müssen. Bei Ex-Botschafter Prof. Dr. N. und dessen turnierreitender Gattin spielt mit schöner Regelmäßigkeit der gewaltig romantisch inspirierte Pianist Tonio, der den Weg von der Insel Stromboli jeweils nicht scheut, um den köstlichen Antipasti Gewichtiges von Chopin und Liszt mit auf den Verdauungsweg zu geben.
Besonderer Beliebtheit freilich erfreuen sich die Streichquartette, die in den letzten Jahren wie Pilze aus feuchtwarmem Boden schossen. In der geräumigen Wohnlandschaft des Architekten G. waren zuletzt die Asinellos zu Gange – sehr dynamisch, ja: sportiv. Wie sie die Leichtigkeit des jungen Mendelssohn dynamisierten! Superb! Dies ganz international besetzte Quartett konkurriert auf dem inzwischen offensichtlich gut erschlossenen Feld der Tafelmusik mit dem Amante- und dem Andante-Quartett, dem Addisco- und dem Ardeo-, dem Adorno- oder Adulatio-Quartett (um hier nur die zu wichtigsten nennen, die mit dem klangvollen A anfangen). Und alle haben sie namhafte Wettbewerbe gewonnen.
Eng ist der Markt geworden für die vielen Streicher, die an den zahlreichen Musik-hochschulen oder Konservatorien ausgebildet werden und für die es keine Plätze in den Orchestern gibt, nicht einmal (oder nur sehr gelegentlich) in einem der Ensembles, die sich der historistischen (oder „historisch informierten“) Musizierpraxis verschrieben haben. Längst griffen diese – um es mit dem Begriff eines altmodischen Politökonomen zu benennen – Einzelkämpfer der kulturindustriellen „Reservearmee“ zur Selbsthilfe. Denn etliche dieser Kammermusikensembles und deren Betreiber können wohl nur existieren, weil sie kräftig Brosamen direkt von den Tischen der Reichen abbekommen. Wenn dann freilich vier dieser Kammervirtuosinnen und -virtuosen vor den 25 Metern Bücherschrankwand des Hausherrn in die Darmsaiten greifen, dann machen sie Arbeitsplatzquerelen, Gelenkschmerzen und Ärger mit der Deutschen Bahn vergessen.
Die Intimität des wieder auferstandenen Hauskonzerts, bei dem Musik und Musiker gleichsam zum Anfassen nah rücken, vermittelt Erlebnisse der besonderen Art. Wenn dann noch ein frühpensionierter FAZ-Redakteur oder eine der aus dem Morgenprogramm der Landesrundfunkanstalt bekannte Moderatorin durchs Programm führt, dann verklären sich die Blicke der Hörerinnen und Hörer bei der Teilhabe am klingenden Glück neubesinnlicher Bürgerlichkeit.
Ein wenig bang machen möchte lediglich der Umstand der Reprivatisierung von etwas, was aus guten Gründen vor langem schon in die Öffentlichkeit geholt wurde. Zu den Errungenschaften der Pionierjahre des Bürgertums gehört, daß „das Konzert“ nach und nach aus der „Kammer“ des Fürsten in allgemein zugängliche Räume auswanderte. Also: aus Veranstaltungsorten, die nur auf besondere Gunst und Einladung hin, mithin für einen großen Teil der Bevölkerung nicht frei erreichbar waren, ins ‚Freie’.
Diese neue Freiheit brach mit den Hauskonzerten des Londoner Kohlenhändler Thomas Britton im Jahr 1678 an. Die im Paris des 18. Jahrhunderts entwi-ckelten Concerts wurden dann in ganz Europa nachgeahmt. Man sollte den Nachhall dieser Versammlungen in den wirtschaftlich entwickeltsten Ländern auf ihren dornigen Wegen zu Demokratien nicht unterschätzen.
Doch der soziologische Wermutstropfen kümmert heute weder das musikalische Nobelproletariat, das allemal dort, wo immer es warm zu Essen gibt, zur Stelle ist – noch die geladenen Gäste, die das Privileg der exklusiven Teilhabe genießen. Und der Satz des ersten Pultstars des modernen Musikbetriebs – es war Hans von Bülow – gewinnt neue Bedeutung. Vornan für die Herren Sponsoren: „Le concert – c’est moi“.