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Lera Auerbach. Foto: Konzerthaus Berlin
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Mystischer Geist, angeschrägt: zur Uraufführung von Lera Auerbachs A-cappella-Oper „The Blind“im Konzerthaus Berlin

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Der Symbolist Maurice Maeterlinck diente schon vielen Komponisten als Vorlage für Vertonungen. Vor allem sein Schauspiel „Pelléas et Mélisande“, das wichtigste Stück dieser im Gegensatz zum Naturalismus das „surnaturel“ fordernden Strömung, vertonten Komponisten wie Fauré, Debussy, Sibelius und Schönberg.

Noch vor „Pelléas“ wurde „Les aveugles“ (Die Blinden) 1891 in Paris uraufgeführt. Ebenso vertonten Debussy und sehr viel später Walter Zimmermann und Beat Furrer den Einakter. Im Jahr 2001 schließlich machte sich die 1973 in Sibirien geborene Komponistin Lera Auerbach an den Stoff. Zurzeit gehört sie zu den weltweit meistaufgeführten Komponisten und präsentierte in Berlin auf der Durchreise von Dresden nach Helsinki ihre Oper „The Blind“.

Ganz im Gegensatz zu Maeterlincks erstem Stück „La Princesse Maleine“ ist „Les aveugles“ ein nach innen gekehrtes, handlungsarmes und ganz dem Symbolismus verschriebenes Stück. Zwölf Blinde werden von einem Priester in die Natur geführt, den sie dort verlieren und nach langem, verwirrten und verzweifeltem Ausharren, tot auffinden. Sie scheinen verloren und es bleibt ihnen nur noch das Beten. Das „In-sich-kehren“ bestimmt das ganze Stück.

Der kurzen Oper Lera Auerbachs stellt Philip Mayers, der musikalische Leiter, ein Präludium und einen Prolog voran. S. D. Sandströms Bearbeitung von Henry Purcells „Hear my Prayer, O Lord” wird von acht hinter dem Publikum stehenden Mitgliedern des Vokalconsorts Berlin gesungen, während auf der mit weißem Teppich ausgelegten, nach hinten aufsteigenden Bühne der Text handschriftlich projiziert wird. Als ob eine große schreibende Hand am eigenen Gebet zweifelt, wird der Text überschrieben oder verschwindet nach und nach. Dies hätte bei größerer Intonationsreinheit und Durchschlagskraft des Chores das Potenzial zu einem mystisch-überwältigenden Einstieg.

Im etwas lang geratenen, aber sehr gelungenen Prolog tauchen vier Sprecher, die Auszüge aus Maeterlincks naturphilosophischen Texten „Das Leben der Bienen“ und „Das Leben der Termiten“ auf Deutsch rezitieren, abwechselnd aus an verschiedenen Stellen der Bühne eingelassenen Löchern auf. Ihre eigenartig geformten Hüte erinnern an Zellen, Waben und Spielfiguren. Die Groteske, die einem interessante Einblicke in Maeterlincks Denken gewährt, begleiten rauschende Klänge und projizierte Nahaufnahmen von Bienenstöcken.

Die eigentliche Oper beginnt nach gut 20 Minuten mit dem Auftreten weiterer Sänger, die blau gekleidet die Bühne bevölkern. Angestimmt wird eine mystische Klangsprache in altenglischer Diktion. Die Bässe lassen einen rhythmischen Sprechchor erklingen, worüber sich die Stimme einer Sopranistin verheißungsvoll legt. So gestaltet sich in verschiedensten Stimmaufteilungen auch der weitere gesangliche Verlauf.

Die Blinden sind untereinander auf jede erdenkliche Art und Konstellation verbunden, jedes Individuum hat mehrere gesangliche Funktionen. Oft sind es Quarten und Quinten, die den Untergrund für scheinbar frei improvisierte, liturgisch anmutende Sologesänge bilden. Immer dichter drängen sich die Stimmen und kulminieren nach einem breit angelegten crescendo in überwältigendem Tutti-Gesang. Die Tonsprache Auerbachs überzeugt: die Sphäre zwischen Tonalem und Atonalem wird immer wieder neu ausgelotet und erforscht. Dem Vokalconsort Berlin gelingt es, in dem sich ständig verändernden Klangkörper eine Einheit zu bilden.

Leider bleibt der Text an manchen Stellen trotz einiger Libretto-Ausschnitte auf dem Programmzettel unverständlich. Auf Übertitel verzichtete man zugunsten von Videoprojektionen, welche den Text sehr schlicht bebildern: Riechen die Blinden Blumen, so erscheinen auf der Leinwand entsprechende Videoausschnitte von Blüten.

Die schräge Bühne funktioniert als Sinnbild für die Notsituation der Blinden, da sie jederzeit abzurutschen drohen. Andererseits ermöglicht sie aber auch nur wenige, statisch wirkende Gesten im Sitzen und erzeugt offensichtliche Unsicherheit bei den reduzierten und teilweise kollektiv vollzogenen Bewegungen. Keine Requisite, wenige Lichteinstellungen und Videoprojektionen, darüber hinaus keine Instrumente und die Blinden als handlungsunfähige Menschen im Mittelpunkt: symbolistische Innerlichkeit ist nicht einfach mit bloßer Reduktion der Mittel zu erreichen. Der mystische Geist Maeterlincks wird an diesem Abend lediglich im Musikalischen spürbar.

Weitere Aufführungen: 19./20. Oktober

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