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Frank Corcoran. Foto: Hans-Dieter Grünefeld
Frank Corcoran. Foto: Katharina Spitzer
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Mythen, Metaphysik und Metaformen – Frank Corcoran zum 77. Geburtstag

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Humus in Irland, der zur Entwicklung kultureller Identität vorhanden war und ist, unterscheidet sich eklatant durch die geographisch äußerst westliche Insel-Lage vom restlichen Europa. Wegen dieser relativen Isolation verkümmerte unter der Decke britisch-royaler Okkupation ab 1600 das Erbe der Kelten und Wikinger, Widerstand schwelte bestenfalls schwach. Erst 1921 nach einem Bürgerkrieg durch die Gründung der Republik Irland (Eire) und endgültig 1949 mit der Loslösung vom Commonwealth löste sich diese Erstarrung. Postkoloniale Traumata und Ressentiments blieben trotzdem, die Besinnung auf indigene Ressourcen der Kultur, insbesondere die Akzeptanz der keltischen Sprache Gälisch, ist bis zur Gegenwart ein prekärer Faktor.

An gregorianischen Gesang des Vaters und des Priesters vor Ort sowie Klangsplitter aus einer Concertina seiner Tante erinnert sich Francis Borgia (Frank) Corcoran, geboren am 1. Mai 1944 in Borrisokane, noch genau. In diesem Dorf berührt Klangneugierde die Ohren des Kindes, die sich später, 1952, nach dem Umzug mit den Eltern und Geschwistern nach Tipperary, zu aufmerksamem Interesse intensiviert: Auf dem großen Hof hört Frank die Stimmen der Tiere, insbesondere das Schweineorchester oder „The Tipperary Pigharmoniker“. Gregorianischen Gesang wiederum in der Schule, wo er von Klasse zu Klasse geschickt wird, um Lieder vorzusingen, und Akkordeon in der lokalen Céili Band lernt. Dann die Begegnung mit seinem ersten Musiklehrer im St. Finian’s College Westmeath: Father Frank McNamara, der ihn ab 1956 an einem Blüthner-Flügel im Kontrapunkt unterrichtet: „Musik rettete mich, zog mich aus meiner Depression, die zu der Zeit zugleich national und verbunden mit einem Minderwertigkeitskomplex war.“ Doch wie war die Musik in Irland, welche Geschichte und Funktion hatte sie, als einem jungen Mann wie Frank Corcoran allmählich dämmerte, sie könnte zu seinem Beruf und sogar zur Berufung werden?

Das Schweineorchester oder „The Tipperary Pigharmoniker“

Möglichkeiten für den Aufbau und die Entwicklung kostenintensiver Projekte wie eine eigene Oper und ein eigenes Symphonie Orchester waren in Irland lange Zeit nicht präsent. Es fehlten infrastrukturelle Voraussetzungen für Komponisten und Musiker, um überhaupt arbeiten zu können. Literaten wie James Joyce oder Samuel Beckett waren und sind erheblich populärer, die Szene klassischer Komponisten temporär verdunkelnd. Insofern waren und sind bis jetzt vor allem die Pub-Folklore und die Steptänze bekannt. Deshalb folgte Frank Corcoran zunächst einer ganz anderen Empfehlung, nämlich des für ihn zuständigen Bischofs, in Rom zu studieren und Priester zu werden. Was ihn bald verdross, sodass er dem katholischen Dogma abtrünnig wurde und sich nun professionell der Musik zuwandte. Dabei beeinflusste ihn durchaus die Lektüre des „Doktor Faustus“ von Thomas Mann. Dieser Roman brachte ihn zur Musik aus Deutschland, demgemäß: komponieren im Pakt mit dem Teufel. Damit verbunden sind strikte Stilistik und intellektuelle Stringenz.

Vatikan-Enttäuschung mutierte zur Musik-Spiritualität: Zwar hielt Frank Corcoran institutionalisierten Glauben auf Distanz, aber sein Drang zur Gottessuche trieb ihn zur Metaphysik: Werke wie „Tradurre / Tradire“ oder „Quasi Una Missa“ (beide elektro-akustisch) dokumentieren seine zweifelndes Credo gemäß des mittelalterlichen Philosophen Johannes Scotus Eriugena: Deus est – Deus non est – Deus superest. In diesem Zusammenhang ist die „Music For The Book Of Kells“ als symbolisches Piktogramm eine Besonderheit. Das Book Of Kells ist ein im traditionell keltischen Ornamentstil illustrierter Codex zu den vier Evangelien in Rundschrift-Latein aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, der wahrscheinlich im Kloster Iona an der Westküste Schottlands angefertigt wurde. Jetzt ist das überragende Original frühchristlicher Buchkunst im Trinity College Dublin ausgestellt und seit 2011 UNESCO-Weltkulturerbe. Während seines Fulbright Stipendiums 1990 in den USA wurde Frank Corcoran von der University of Wisconsin, weil sie eine Faksimile-Edition erworben hatte, beauftragt, die „Music For The Book Of Kells“ zu komponieren. Naheliegend wäre vielleicht Neo-Gregorianik gewesen, aber stattdessen weisen sanfte Perkussion auf Bronze, Stahl und Holz für fünf Instrumentalisten sowie Klavier in einer allerdings abstrakten Struktur auf keltische Elemente in merkwürdiger Symbiose zum christlichen Inhalt, monastische Askese und Heilige und (welt-)geistliches Kolorit durch Arbeitsgeräusche – eine Besetzung, die Frank Corcoran als Klang-Äquivalent seines Sujets bezeichnet. Offenbar eine psychische Reaktion auf die Buchgestaltung und mehr ein Nachhall optischer Wahrnehmung als der Glaubenslehre.

„Musik rettete mich, zog mich aus meiner Depression, die zu der Zeit zugleich national und verbunden mit einem Minderwertigkeitskomplex war.“

Zuvor hatte Frank Corcoran in den 1960ern Theologie, Literatur, Philosophie und Musik studiert und eine Ausbildung beim Komponisten Boris Blacher in (West-)Berlin absolviert. Akademische Aufenthalte in Stuttgart, Harvard, Princeton, Boston und schließlich eine Professur für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (1983 bis 2008) kennzeichnen den äußeren Rahmen für eine ex patria Kreativität, die neben metaphysischer Reflexion ein klingendes Gedächtnis altirischer Mythen hervorbrachte: vor allem in der thematischen Werkgruppe zum mittelalterlichen König „Mad Sweeney“ (1996, für Sprecher und Kammerorchester“), „Sweeney’s Vision“ (1997, Tonband / elektro-akustisch), „Sweeney’s Lines and Sighs“ (1997, 3. Streciquartett), „Sweeney’s Farewell / Sweeney’s Last Poem“ (1998, Tonband / elektro-akustisch), „Sweeney’s Wind Cries“ (1998, 3. Bläserquintett), „Sweeney’s Smithereens“ (für Kammerensemble, Auftrag zur EXPO 2000) und „Sweeney’s Total Rondo“ (2003, für Solo-Klavier). Die Sage vom verrückten Sweeney (Gälisch: Buile Suibhne, aus dem Zyklus der Könige – publiziert zwischen 1200 und 1500), einem heidnischen (paganen) lokalen König aus Dal-Arie (Nordirland), der seinen Verstand in der Schlacht von Maigh Rah 637 n.Chr. verlor, übersetzte der irische Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney (1939-2013) als „Sweeney Astray“ (irre) 1983 ins Englische, die Textgrundlage für die Corcoran-Vertonungen.

Konzept Makro-Kontrapunkt

Musikimpressionen seiner Kindheit und Jugend hat Frank Corcoran dann in seinem Konzept Makro-Kontrapunkt verarbeitet, nämlich Wellenformen, Krümmungen, Sprünge und die Architektur musikalischer Linien, denen er eine je individuelle und doch koordinierte Struktur gab. Darüber hinaus könnte die Mehrflüssigkeit des Makro-Kontrapunkts auch ein Protest gegen die Unbeweglichkeit der irischen Musikkultur sein. Hört man das Piano Trio und andere Werke nach diesem Prinzip, gibt es im Klangfluss auch Momente der Instabilität, wackelnde Klänge, die verunsichern. So auch erkennbar beim Problem, „irische“ Symphonien (ohne nostalgisch-romantisches Programm!!) zu komponieren, deren Stilistik zugleich indigen und universal ist. Dabei bezieht Frank Corcoran sich nicht auf Folklore, sondern auf die wörtliche Bedeutung von „Symphonie“ als „zusammen klingen“, und zwar in Strukturen, Expression, Aura, Semantik und historischen Palimpsesten (Überschreibungen).

Ein wichtiger Auslöser für diese Klangästhetik war die Symphonie Nr. 2 des polnischen Komponisten Witold Lutosławski (1913 bis 1994), die Frank Corcoran im Jahr 1971, als er fürs Bildungsministerium arbeitete, unerwartet hören konnte: „Eines Tages ging ich ins alte Gebäude von Radio Éireann in Dublin. John Kinsella und Gerad Victory (Komponistenkollegen) waren da und sagten zu mir: „Hör dir das an, es ist gerade von Warschau herein gekommen. Und von einem Tonband konnte ich die Symphonie Nr. 2 von Lutosławski als Aufnahme der Uraufführung beim Warschau-Festival hören. Das war ein großes Band, der massive Hieb, das Maximum geballter orchestraler Energie, superb vorbereitet und superb explodierend. Für mich war das ein WOW-Erlebnis.“ Witold Lutosławski war seitdem für Frank Corcoran ein wegweisendes Idol für seine klangästhetischen Ambitionen. Denn Witold Lutosławski löste sich in dieser Symphonie streckenweise von metrischer Notation, eine Methode, die bei Frank Corcoran zum Makro-Kontrapunkt wurde. Seine erste „Symphonies of Symphonies of Wind“ bezieht sich im Titel allerdings auf Igor Strawinsky, für Frank Corcoran ein ebenso wichtiger Impuls dieser Zeit, und wurde 1981 in Wien mit dem ORF Symphonie Orchester unter der Leitung von Lothar Zagrosek uraufgeführt.

Frage nach der Haltbarkeit und Zukunftsfähigkeit irischer Perspektiven in europäischer Klangrede

Die Aneignung und Modifikation europäischer Kunstmusik war für Frank Corcoran damit aber noch lange nicht abgeschlossen. Vielmehr revidierte er in einer Serie von vierzehn „Quasi“-Kompositionen für verschiedene Besetzungsformate (Solo, Kammerensemble, Orchester) fast das gesamte Reservoir standardisierter Formen wie die Messe (Quasi Una Missa), Konzert, Variationen, Fuge und stilistische Modi wie Pizzicato oder Lamento. „Quasi“ bedeutet hier eine Ambivalenz, ähnlich der Metaphysik „Deus est – Deus non est – Deus superest“, also die Frage nach der Haltbarkeit und Zukunftsfähigkeit irischer Perspektiven in europäischer Klangrede, kurzum: können genannte Metaformen eine adäquate Reaktion auf eine von Frank Corcoran empfundene Krise sein? Seine Antwort: „In unserer gegenwärtigen Welt, die von so viel klingendem Kehricht und musikalischem Overkill gesättigt ist, muss kreative neue Kunst / Musik nach höchster Konzentration streben und sich ironisch bewusst sein, dass andere bereits zuvor Ähnliches getan haben.“ Von daher sind seine Quasi-Kompositionen zu verstehen.

Desweiteren hat Frank Corcoran historische und zeitgenössische Texte in Irisch / Gälisch und Englisch, insbesondere von Nobelpreisträger Seamus Heaney und dem Lyriker Gabriel Rosenstock, sowie in Italienisch und Deutsch vertont. Seine „Joycepeak Musik“, eine Auseinandersetzung mit dem bedeutenden irischen Autor der Moderne James Joyce, gilt als paradigmatisch für mögliche Adaptionen literarischer Methoden für die Musik. Selbst hat Frank Corcoran zahlreiche Haikus und Sonette geschrieben und auch für eigene Musik verwendet. Außerdem hat er viele Funkessays beim NDR publiziert, bei denen er Kernrepertoire klassischer Musik analysiert und aus seiner Sicht vorgestellt hat. Diesen Genres widmete er sich auch in seinen bisher letzten großen Werken: jeweils Solo-Konzerte für Violine, Klarinette und Cello. Dabei ist nicht ironische Distanz beabsichtigt, sondern es sind Versuche, dem Gestus der Romantik eine Reverenz aus der Gegenwart zu erweisen.

Seit 1983 lebt Frank Corcoran in Hamburg und saisonal in Lazio (Italien). Mittlerweile ist Irland ein EU-Staat geworden, die Bedingungen zur Förderung des eigenen Kulturerbes und Musik in klassischer Tradition haben sich zum Positiven verändert. Die Musik von Frank Corcoran als klingendes Gedächtnis hat ihren Anteil daran, dass die Atlantik-Insel im Westen und ihre Kulturgeschichte näher ins Bewusstsein zeitgenössischer Europa-Diskurse gerückt ist.

P.S.: Congratulations, Frank. Chapeau! And keep on composing!

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