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Arbeiter beim Anbringen der Akustikbauteile im Konzertsaal. Foto: Renzo Piano Building Workshop
Arbeiter beim Anbringen der Akustikbauteile im Konzertsaal. Foto: Renzo Piano Building Workshop
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Nach dem großen Beben

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Kultureller Neubeginn im mittelitalienischen L’Aquila
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Vor dem schweren Erdbeben im April 2009 war L‘Aquila ein lebendiges Musikzentrum, das sogar mit Salzburg verglichen wurde. In der mittelitalienischen Stadt in den Abruzzen traten nicht nur ortsansässige Orchester, Kammerensembles und Chöre auf, sondern auch Weltstars wie Arthur Rubinstein, Yehudi Menuhin, Swjatoslaw Richter und Maurizio Pollini. Mehr als drei Jahre nach der Katastrophe liegt das Kulturleben jedoch noch weitgehend danieder. Das fast vollständig gesperrte historische Zentrum mit seinen barocken Kirchen verfällt zusehends, während mehr als 30.000 obdachlos gewordene Menschen in eilig aus dem Boden gestampften Stadtrandsiedlungen untergekommen sind. Wo die Regierung offenkundig beim Wiederaufbau versagt hat, will der Architekt Renzo Piano mit drei bunten Würfeln ein Zeichen für einen kulturellen Neubeginn setzen.

Auf Bitten des Dirigenten Claudio Abbado hat Piano in einem kleinen Park am Rand der „roten Zone“ einen provisorischen Konzertsaal bauen lassen, den die Konzertgesellschaft B. Barattelli solange nutzen kann, bis ihr altes Quartier in der stark beschädigten Spanischen Festung aus dem 16. Jahrhundert restauriert worden ist. Der auf der Kante stehende Kubus bietet einem kleineren Orches­ter mit etwa 40 Musikern sowie 250 Zuhörern Platz und wird von zwei kleineren Würfeln flankiert, in denen Foyer, Künstlergarderoben und technische Anlagen untergebracht sind. 

Die Kosten von 6,7 Millionen Euro hat die Autonome Provinz Trient übernommen, die bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben die ersten freiwilligen Helfer in das Gebiet geschickt hatte. Die Konstruktion besteht größtenteils aus Rottannenholz aus dem Wintersportgebiet Val di Fiemme, das Stradivari einst für seine Geigen bevorzugte. Verarbeitet wurden rund 6.000 Holzdauben in 21 Farben, von strohgelb über grün bis hin zu rot. Mit einiger Fantasie kann man dabei auch an unterschiedliche Töne denken. Piano erklärte dazu, dass er sich den Saal als großen Resonanzraum einer Stradivari vorstelle. Holz sei nicht nur gut für die Akustik, kostengünstig und ökologisch verträglich, sondern könne außerdem möglichen weiteren Erdstößen besser standhalten als Stein. 

Zur Einweihung des „Auditorium del Parco“ Anfang Oktober kam Abbado mit seinem Orchestra Mozart aus Bologna, das in L’Aquila kurz nach dem Erdbeben schon ein Solidaritätskonzert für die Bevölkerung gegeben hatte. Zuvor hatte Abbado die Spendenaktion „Ein Haus für die Musik“ initiiert, bei der 47.500 Euro zusammenkamen, die als finanzielle Projektbeteiligung an Trient gingen. Das Orchester kam jetzt in kleiner Besetzung, um in Anwesenheit von Staatspräsident Giorgio Napolitano ein Bach-Programm zu spielen, sozusagen als Vorgeschmack auf eine spätere Tournee, die von Bologna aus unter anderem nach Frankfurt am Main (3. Dezember), Baden-Baden (4. Dezember) und München (6. Dezember) führen wird. 

In einer Grußbotschaft erklärte Abbado, er wünsche sich, dass der Konzertsaal nicht nur dem Musikleben, sondern allen kulturellen und sozialen Aktivitäten neue Impulse geben möge. An einen normalen Alltag ist bisher allerdings kaum zu denken. 

So stieß das Projekt angesichts des desolaten Zustands des historischen Zentrums bei der Bevölkerung nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Kritik. Wie problematisch die Lage ist, konnte die Geigerin Isabelle Faust beobachten, die als Solistin auch bei der Tournee im Dezember dabei sein wird. „L’Aquila war früher wunderschön. Jetzt wirkt das Zentrum dagegen wie eine Geisterstadt“, berichtet sie. „Die Gebäude stehen leer und werden durch Pfeiler abgestützt. Von einem Wiederaufbau ist noch nichts zu sehen.“

Faust glaubt aber, dass der Konzertsaal gerade in dieser Zeit ein wichtiger Ort für die Bevölkerung werden könnte. „Nach einer Probe haben wir an einem Abend eine Gruppe junger Leute auf einer Straße am Rand der Altstadt gesehen. Wahrscheinlich kamen sie aus den Neubausiedlungen“, erzählt sie. „Für sie könnte der Saal ein neuer Treffpunkt werden. Denn dort kann man nicht nur Klassik, sondern auch Jazz und andere Musik spielen. Und die Innengestaltung mit den kräftig roten Wänden spricht Jugendliche sicherlich besonders an.“ Für die Aufführung der Bach-Werke fand sie die Rahmenbedingungen ideal: „Das Programm passte sehr gut zu diesem kleinen, intimen Saal. Die Akustik hat uns allen sehr zugesagt. Und als das Publikum dazu kam, hat der Klang noch an Wärme gewonnen.“

Die von dem Komponisten Giorgio Battistelli geleitete Konzertgesellschaft Barattelli plant nun für die Zukunft. Wie sie den Saal bewirtschaften kann, bleibt allerdings abzuwarten. Denn in der derzeitigen Finanzkrise in Italien Geld für Kulturprojekte zu mobilisieren, ist kein einfaches Unterfangen. Dafür hat sich neben Renzo Piano aber noch ein weiterer international renommierter Architekt für die Musikkultur in L’Aquila eingesetzt. 

Der Japaner Shigeru Ban entwarf einen Konzertsaal für das Konservatorium Alfredo Casella, das seinen historischen Sitz nahe der Basilika Santa Maria di Collemaggio nicht mehr nutzen konnte. Am nordöstlichen Rand von L’Aquila wurde im Mai 2011 ein größtenteils von der japanischen Regierung finanzierter Saal eingeweiht. Ban, der in den Erdbebengebieten seines Landes Erfahrung gesammelt hat, griff auf ein ungewöhnlich erscheinendes Material zurück. Röhren aus Recycling-Pappe sollen dem Gebäude als Stützelemente größere Standfestigkeit geben. In der ebenfalls erdbebengeschädigten Stadt Christchurch in Neuseeland lässt Ban gerade eine Kirche aus Pappe bauen.

Zum Gedenken an die Opfer des Erdbebens und des Tsunamis im Nordosten Japans hatte Abbado mit dem Lucerne Festival Orchestra im vergangenen Jahr in Luzern das „Adagio“ aus der Zehnten Sinfonie von Gustav Mahler aufgeführt. Zu dem Anlass wurde ein Projekt für einen mobilen Konzertsaal vorgestellt, der von dem japanischen Architekten Arata Isozaki und dem britisch-indischen Künstler Anish Kapoor für die zerstörte Region entworfen worden war. 

In diesem Sommer erlebten der Dirigent und sein Orchestra Mozart Erdbeben in der Emilia Romagna, durch die schwere Schäden in mehreren Orten der Region entstanden. Eine öffentliche Generalprobe in Bologna wurde spontan zum Benefizkonzert umgewidmet. Nach Überzeugung von Abbado „ist die Kultur grundlegender Bestandteil des sozialen Gefüges, das durch das Erdbeben zerrissen worden ist“. Mit dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Lucerne Festival Orches­tra gastierte er im September in der Stadt Ferrara, der er seit Jahrzehnten eng verbunden ist. Alle Einnahmen kamen der Restaurierung historischer Gebäude zugute, auch dem Stadttheater, das nach den Beben vorübergehend geschlossen war und mit dem Konzert in die neue Saison starten konnte. 

Weit schlimmer als das Theater hat es die Kirchen der Stadt getroffen, die bis auf den Dom noch nicht wieder zugänglich sind. Im Castello Estense sind zudem zahlreiche Renaissance-Fresken beschädigt worden und Risse entstanden. Für Ferrara hat sich auch das Mahler Chamber Orchestra engagiert, einer von Abbados Klangkörpern, der in der Stadt seit 15 Jahren eine regelmäßige Residenz hat. In Berlin folgten das Orchester und das Kulturzentrum „Radialsystem“ dem Hilfsappell des Dirigenten und widmeten der Emilia Romagna einen Abend mit Konzert- und Tanzaufführungen. Rund 1.500 Kirchen und eine noch größere Zahl his­torischer Palazzi waren von den Beben betroffen, vor allem in der westlich gelegenen Emilia. Dass die Region ebenso wie L’Aquila auch künftig nicht in Vergessenheit gerät, ist angesichts des Ausmaßes der Schäden hier wie dort vonnöten. 

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