Vielleicht hatte sich Stanislas Nordey bei seinen Regievorarbeiten ja einfach nur zu sehr auf die Tatsache verlassen, dass Wagner in seinen Musikdramen das Orchester zum Träger des Dramas aufwertet. Ansonsten hätte er in seiner Inszenierung des Lohengrin, die am Sonntag an der Stuttgarter Staatsoper ihre skandalumflorte Premiere feierte, vielleicht nicht jegliche Bewegung und Aktion der Musik überlassen. Warum Doppeltmoppeln, hatte sich der Franzose vielleicht gedacht?
Während das Orchester unter Leitung von Generalmusikdirektor Manfred Honeck den fein verästelten Nervensträngen der wabernd-wogenden Gefühlswelten der Protagonisten nachspürte, das blechgrelle, ohrenbetäubende Wagner-Pathos aber auch nicht scheute, passierte auf der Bühne so gut wie nichts: Die Singenden frönten einem immer schön frontal zum Publikum ausgerichteten Stehtheater. Die Personenführung machte gelegentlich den Eindruck eines zeitlupenartig ausgeführten Stockpuppentheaters. Zumal die Bösen Schwarz trugen, während die Guten blendendes Weiß kleidete. Schicke Klamotten von Raoul Fernandez – aber hätte man nicht die Farben tauschen können? Dann hätte man wenigstens irgendetwas zum Nachdenken gehabt in diesen vier sehr zähen Lohengrin-Stunden.
Der Regisseur verweigerte sich jeder Konkretisierung, was im Falle des Schwanes, des mittelalterlichen Münsters und der Ritterburg leicht zu verkraften war. Doch Nordey setzte dem nichts entgegen. Seine Entrümpelung des Wagnerschen Gralsritterwunderwerks hinterließ nur gähnende Leere. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch was die Rollenauslegung betraf: Es standen keine Menschen auf der Bühne, sondern abstrakte Figuren, bestenfalls noch Typen: Lohengrin, der Elsa-Erlöser und Parzifal-Sohn, der an diesem Abend nicht mit dem Schwan kam, sondern wie alle aus der Versenkung, verließ die Bühne genauso fremd wie er gekommen war: In weißem Anzug, etwas ungelenk, ohne die inszenierungskonforme Körperspannung.
Elsa mit ihrem verklärten Dauer-Romy-Schneider-Lächeln und gen Himmel gereckten Armen wirkte genauso plakativ engelshaft wie die intrigante Ortrud teuflisch. Und Heinrich? Er erschien als gefühlloser, faschistoider Heerführer, der das Volk als hirnfreie Masse hinter sich hat. Doch blieb dieser Eindruck vage, er war ja weiß gekleidet und gehörte damit zu den Guten. Einzig Friedrich von Telramund zeigte Rollenprofil. Das lag aber an der Stimme von Wolfgang Koch, der mit farbenreichem, plastisch-expressiven Bariton gegen sein ihm zugewiesenes Schwarz ansang und so seinem Charakter noch andere Facetten abrang als bloßes Pantoffelheldentum oder abstrakte Bosheit. Und das tat er mit jenem Gold in der Stimme, das das Herz packt.
Es ist die sprichwörtliche Ironie des Schicksals, dass es in dieser dirigentenfreundlichen Inszenierung – man hätte das Ganze auch ohne größere Unterhaltungsverluste konzertant aufführen können – in den letzten Tagen vor der Premiere zu einem unüberbrückbaren Streit zwischen Manfred Honeck und dem Regisseur gekommen war, infolgedessen Nordey das Handtuch geworfen hatte und wütend abgereist war. Der Streitpunkt war das einzige, einsame Bühnen-Element der Inszenierung – sieht man einmal von einem gelegentlich heruntergezogenen Prospekt ab, auf dem bedeutungsschwanger „Nie, Herr, soll mir die Frage kommen“ prangte. Der Bühnenhintergrund war von Emmanuel Clolus zwecks starrer Positionierung des Chores als ein Vier-Etagen-Gerüst gestaltet worden. Dieses in Verbindung mit schalldämpfenden Samtstoffen hatte akustische Probleme verursacht, mit denen sich der Generalmusikdirektor nicht hatte abfinden wollen.
In der Premiere war das Gerüst wohl entsamtet, der Chor aber weiterhin in vier Reihen übereinander montiert: Im ersten Akt waren nur die Gesichter sichtbar, im zweiten die halben Choristen, und im letzten war Ganzkörper angesagt. Akustische Probleme gab's hörbar noch immer: Der Chorklang war zwar wie gewohnt strahlkräftig, rein, zuweilen aber ein wenig diffus und nicht immer ganz perfekt mit dem Orchester koordiniert.
Den Chor fast durchweg die singende Wand spielen zu lassen, gab dem Ganzen eine betonisierende Grundierung, vor der die unerträgliche Rampen-Gestik der Solisten des öfteren lächerlich wirkte. Die inhaltliche Leere wurde gelegentlich mit erschlagend kitschigen Effekten garniert: Wenn Lohengrin auf die Bühne hinaufgefahren wird, regnet es minutenlang bleiche Blütenblätter – oder sollten es Schwanenfedern sein? Und bei der Hochzeite Elsas mit dem Namenlosen regnete es Rotes.
Blieb die Musik. Der am Ende vom Publikum zu Recht bejubelte Manfred Honeck und sein Klangkörper trugen das Solistenensemble sicher durch die Wogen und Wellen der Partitur. Mary Mills als Elsa ergänzte ihr zunächst eher lyrisches Potential mehr und mehr durch Dramatik. Barbara Schneider-Hofstetter als fiese Ortrud brachte ihr klares, grell-weittragendes Organ gut zur Geltung (manchmal selbst das Orchester an die Wand singend). Attila Jun als Heinrich gab sich sonor, sauber, siegessicher. Und Scott MacAllister, der den von Honeck aus der Produktion gekickten Lance Ryan ersetzte, verpasste dem Lohengrin ein wenig italienischen Schmelz, der ihm gut stand, wenn auch im Piano des öfteren Fragilitäten offenbar wurden.
Ein fader Nachgeschmack bleibt allemal. Wagners auf Überwältigung zielende Musik gekoppelt an heute schwer verdauliche Parolen wie „Für deutsches Land das deutsche Schwert!“ und „Mit Gott für Deutschen Reiches Ehr'“ und die fragwürdige Geschichte um Erlösungssehnen, Führertum und Militarismus erfordern im Deutschland des Jahres 2009 kritische Reflexion. Dass dies in Nordeys Inszenierung nicht einmal ansatzweise geschehen ist, erweckt kaltes Unbehagen.