Das regt die Fantasie des Kulturkritikers an/auf: Landauf landab werden immer neue „Superstars“ so hautnah am Reißbrett designt, bis sie beides sind: so authentisch, als wären sie Volkes Stimme und Körper in persona – und so glamourös, dass sie die unerfüllten Wünsche ihrer Konsumenten zumindest virtuell, in einer „bigger than life“-Scheinwelt erfüllen. Und noch zwei Medienriesen, Sony und BMG, fusionieren, um das Musikgeschäft in den Griff oder zumindest die Kosten unter Kontrolle zu bekommen.
Das ist die Identitätspolitik der Konzerne: Stars werden im Klonverfahren hergestellt, bis sie einander und den künstlichen Träumen ihres Publikums bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln. Individualität wird zum Rest: einem Tick oder einem Accessoire, die fetischartig ausgestellt werden. In der Welt der Warenästhetik regiert der Wiederholungszwang. Nicht nur bei den Autoproduzenten hat sich die Plattformstrategie durchgesetzt: Aus ein paar seriellen Elementen, die beliebig kombinierbar sind, werden „Marken“ zusammengebaut, die ihre Eigenheit nur vortäuschen.
Aber der kulturkritische Blick täuscht oder neigt dazu, Wichtiges zu übersehen. All die billigen Info-Grafiken, die zeigen sollen, wie das Weltreich der Musik jetzt, nach der deutsch-japanischen Elefantenhochzeit, aussieht, kennen nämlich eine Terra incognita, die eher wächst: Ein Viertel des Markts ist nicht (mehr) unter der Kontrolle der Konzerne. Dort, im Dschungel der Independents, im Chaos der kleinen Labels, wo sich jeder Profitsteigerer hoffnungslos verläuft (die Milliarden Euro für eine rasch sich entwertende Backlist saisonaler „Superstars“ wie Britney Spears verbrennende „Zomba“-Übernahme durch Bertelsmann!), wuchert die Neue Musik, entstehen jeden Tag neue Arten, das heißt: Genres, Projekte, Gruppen, Subjekte. Die Welt der Labels ist die der Schöpfung; und ihre Identitätspolitik lautet: Erzeugung von Differenz.
Während die kommerziellen, synthetischen Superstars so tun müssen, als seien sie „Persönlichkeiten“, während jede Abweichung sofort mit Ausschluss bestraft wird, sind die Pop-Subjekte in der Welt der kleinen Labels so eigen, dass die Identitäten ohne weiteres schillern und gleiten können. Das rhizomatische „Hausmusik“-Unternehmen ist ein hervorragendes Beispiel: dort gibt es mittlerweile eine Fülle von Bands (Notwist, Console, Tied and Tickled Trio), die sich patchworkartig aus wenigen Musikern zusammensetzen. „Identität“ ist nicht mehr eine chimärische Eigenschaft von Personen, sondern charakterisiert Projekte, Arbeitszusammenhänge, Konzert- und Alben-Folgen. Die Devise lautet: Wenn ich mit anderen kooperiere, werde ich ein anderer.
Dort, wo es überhaupt noch Pop-Subjekte gibt, sind sie dezentriert. „Ich ist ein anderer“ hieß das einst bei Rimbaud. Identität ist nicht Sache eines „Wesens“, sondern eines Zusammenhangs. Die Eigenheit eines Labels, seine Logik und sein „Regime“ wird erst nach und nach in der Serie seiner Veröffentlichungen sichtbar. Anders als die großen Konzerne, zu deren verlogener Selbstdarstellung es gehört, dass sie die „Entscheidungen“ ihrer „Künstler“ „respektieren“, erzeugen in der Welt der Indies nicht die Musiker, sondern die Labels Identität: eine sehr flexible und fluide freilich, weil jedes Projekt, jede Veröffentlichung das, was schon war, und das, was noch kommen kann, neu definiert.
Labels sind riskante und deshalb oft kurzlebige Unternehmen. Dabei gibt es zwei gegensätzliche Gefahren: dass die Identität des Labels zu eng gefasst wird; es bindet sich dann zu ausschließlich an ein bestimmtes Genre oder einen Stil; es bewahrt (einen bestimmten Augenblick, eine zwangsläufig vergängliche Form von Intensität), es exkludiert (alles andere). Solche Labels werden rasch historisch, eine Sache von Sammlern, Liebhabern, zum Soundtrack einer Nische. Die andere Gefahr ist die zu große Offenheit, wie sie etwa zu Punk-Zeiten Alfred Hilsberg mit seinem Motto „Lieber zu viel als zu wenig“ verkörperte. Wer nur noch inkludiert, um nur ja nichts zu verpassen oder zu verdrängen, entwertet den eigenen Katalog. Denn es gehört ja zur Identität von Labels, dass jedes Album im Licht aller anderen erscheint.
Ein Label wie SST vermied eine Zeit lang die beiden Fallen (Exklusion/Inklusion) sehr souverän. Der Ausgangspunkt war und blieb klar: die avantgardistische, auch bruitistische Post-Punk-Musik. Aber das Label war nie puristisch, musealisierte nicht auf fatale Weise eine Haltung, einen Standpunkt oder auch musikalische Erfindungen, sondern empfand sich als Ort des entstehenden Neuen. Die Faszination war nicht die eines Blueprints, der die Identität einer Serie garantiert, sondern einer Roadmap: Wohin kann ich von hier aus gelangen (ohne mich zu verlieren). SST veröffentlichte anarchoiden oder politisch korrekten Hardcore der frühen 80er-Jahre (Black Flag, Minutemen), entdeckte aber rasch auch, wie man von Post-Punk ausgehend scheinbar abwegige Genres (Country, Folk) reformulieren und bis dato reaktionäres Terrain mit allen zugehörigen Gefühlen, Sehnsüchten und „Körpern“ umkodieren kann. Das war „Hüsker Dü“ und die Folgen. SST ermöglichte aber auch eine Neuaneignung der Free-Jazz-Avantgarde der Sixties im erweiterten Pop-Kontext (Universal Congress of), begann darüber aber zu zerbrechen. Ein erfolgreiches Label kann sich mit der Zeit überflüssig machen. Stabiler kann unter Umständen ein Label wie New Rose sein, das nicht Produktions- (und Politik-)Zusammenhänge schafft, sondern Einzelgängern, großen Solitären eine Heimat gibt. Hier wirkt das Extrem der Differenz (die nicht kastrierte „eigene Stimme“, das ganz und gar Eigene des Lebensnotats) identitätsstiftend. Im House- und New- Electronica-Kontext gibt es derzeit sogar so etwas scheinbar Paradoxes wie Identität durch Identitätsverwischung, -verweigerung, -diffusion. Was bleibt ist das Label als Bezug, als Ort der Evolution, als „Welt“.