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Stephan Ullrich und Gavin Taylor im Henzes „Idiot“ am Prinz Regent Theater Bochum. Foto: Ursula Kaufmann
Stephan Ullrich und Gavin Taylor im Henzes „Idiot“ am Prinz Regent Theater Bochum. Foto: Ursula Kaufmann
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Neues aus dem Henze-Füllhorn: Musiktheater-Produktionen in Bochum („Der Idiot“) und Herne („Il ritorno d’ulisse in patria“ )

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Kein schlechter Schnitt: Zwei Henze-Wiederentdeckungen an einem Wochenende. Kleine szenische, große konzertante Form. Beide ausgegraben, beide glänzend in der Ausführung, überraschend in der Perspektive. Noch gibt es manches her – das Füllhorn „henze-projekt“ der Kulturhauptstadt Ruhr.2010.

„Der Idiot“ in Bochum

Geschickt, wie dies das charmante prinz regent theater an Bochums Peripherie gemacht hat. Die jährliche Koproduktion mit den Bochumer Symphonikern ist für eine freie Bühne natürlich immer eine Chance. Dass es dieses Mal ein Henze sein sollte, lag in der Luft, respektive im Horizont des ehrgeizigen „henze-projekts“ der Kulturhauptstadt, von dem (wie jetzt bewiesen ward) eine freie Produktionsstätte ebenso profitieren wie es seine Stärken darin investieren kann. In diesem Fall zunächst die Intimität eines Bühnenraums mit Zimmertheateratmosphäre. Kongenial für die Form des Melodrams wie es Henze 1960 auf einen Text seiner Dichterin-Muse Ingeborg Bachmann geschrieben hat. Eigentlich handelt es sich um eine Umarbeitung. Die Berliner Choreographin Tatjana Gsovsky hatte den jungen Komponisten 1952 um Musik zu einer Ballettpantomine gebeten, zu dem sie verbindende Zwischentexte aus Dostojewskis Roman „Der Idiot“ abgezweigt hat. Beides hat Henze (wie so oft) später verändert.

Geblieben ist die Sprechrolle, nur dass die jetzt sieben Monologe für den Fürsten Myschkin als eine freie Paraphrase des Romangeschehens in dieser Form ganz und gar eigenständig sind. Überzeugend Stephan Ullrich, der Bachmanns bilderreiche Prosa, der ihre ureigene Diktion nie überdeklamiert und dies auch nicht braucht, um in der akustischen Überschaubarkeit dieses kleinen-feinen Theaters verstanden zu werden. Doch was gibt Henze dazu? Pure Licht- und Luftmalerei, verteilt auf vier Streicher, je zwei Holz- und Blechbläser, Klavier, Schlagzeug. So klar dies alles unter der Zeichengebung von Errico Fresis daherkommt (Korrepetition: Rainer Klaas) und so klar Ullrich die Worte spricht – in der Kombination entsteht ein Neues, ein Gewebe, das wie eines dieser zeittypischen Calder’schen Mobiles ständig eine neue Seite an sich zeigt und nie ganz fertig ist. Was wir daraus lernen? Zum Beispiel dies, dass uns die Kombination Sprecher/Ensemble in unserem Musiktheater viel zu selten ‚zugemutet’ wird. Ja und vielleicht dies, dass das Berückende an dieser Produktion (Regie: Sibylle Broll-Pape) an ihrer Form zu suchen ist, insofern sie ihr Geheimnis zu keinem Zeitpunkt preisgibt. „Dies ist das Ziel“, dolmetscht Ullrich den Bachmann-Fürsten, „von uns selbst nicht besessen zu sein und jedes Ziel zu verfehlen“. Hier ist es gelungen. (Weitere Aufführungen: 18. und 19.11.)

„Il ritorno d’ulisse in patria“ in Herne

Ob die Alte-Musik-Hörerschaft solches gouttieren würde? So die eine oder andere besorgte Stimme im Vorfeld. Tatsächlich barg und birgt die Konstellation Monteverdi/Henze durchaus ein gewisses Unruhepotential für den über die Junghänels, Goebels, Harnoncourts sozialisierten Originalklang-Liebhaber, insbesondere für den mit fixen Hörerwartungen. So war die Frage beim festlichen Abschlusskonzert der diesjährigen Tage Alter Musik in Herne auch eine an das Publikum. Würde es dazulernen? Auch dann, wenn das WDR Sinfonieorchester nicht zuvor auf Darmsaiten umgeschult worden war? – Der Jubel am Ende dieser mächtig langen (dabei immer noch mächtig gekürzten) WDR-Produktion beantwortete alle Fragen auf das Klarste und Schönste. Eine erlesene Riege von zwölf Sängerinnen und Sängern nebst dem feinen Knabenchor der Chorakademie Dortmund (Leitung: Brad Lubman) lieferten auch in dieser konzertanten Version den Nachweis, dass der Wahlitaliener Hans Werner Henze für den Opernerfinder Claudio Monteverdi mehr als ein Cicerone ist.

Zu den bekannten Problemen jedes Aufführungsvorhabens von „Il ritorno d’ulisse in patria“ gehört die offene Instrumentierungsfrage. Niemand weiß, wie der Komponist sein Orchester 1640 im venezianischen San-Cassiano-Theater besetzt hat. Insofern ist jede Aufführung ganz automatisch eine Bearbeitung. Darin aber ist Henze so weit vom herkömmlich historisierenden „Originalklangorchester“ entfernt wie Ulisses von der Heimat. Üppig darf, muss man diese Instrumentation nennen. Nicht nur wegen eines bemerkenswerten Perkussions-Anteils, wegen Akkordeon, akustischer und elektrischer Gitarre. Überraschend ist das Fehlen der Geigen, in denen Henze monteverdiuntypische „Opulenz“ hört. Stattdessen hat er den Untergrund ausgelotet: sieben Violen, acht Celli und – so raunt es im Publikum – „Guck mal, sechs Kontrabässe!“ Stimmt, aber wie wunderbar das alles klingt. Wie ausgerechnet diese Sechs im Zusammenspiel mit einer das Zeitkolorit wahrenden Viola d’amore den Klagegesang der Penelope fundieren, unterstreichen, den Hörraum dieses frühbarocken Opernwunders in die Seelen- und Sehnsuchtssubstruktionen öffnen – das ist ganz und gar faszinierend anzuhören.

Oder wenn Henze blitzende Einwürfe des gestopften Blechs mit der Erdigkeit einer elektrischen Gitarren kombiniert, um über das Akkordeon zur Harfe zu springen, dann ist da einer dieser unzähligen Momente in dieser Fassung, wo man eigentlich sein ganz persönliches Dacapo rufen möchte. Noch einmal bitte, haben wir so lang nicht gehört. Warum man uns diese ungemein spritzige, inspirierte Ulisses-Fassung seit ihrer Premiere bei den Salzburger Festspielen 1985 vorenthalten hat? Gute Frage.

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