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Neues Licht aufs alte Werk – Frans Brüggen musiziert Bachs Johannespassion

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Eisenach, Georgenkirche. – Bewegend dieser Auftakt der Thüringer Bachwochen. Ein künstlerisch-analytischer Blick auf Bachs Johannespassion, der zeigt, dass und wie es machbar ist: das interpretatorische Leben jenseits gängiger Passions-Konvention.

„Wen suchet ihr?“ Ein magischer Moment. Wie aus dem Nichts die Frage, mit der das stellvertretende Opfer die von Judas angeführte „Schar“ der Häscher zur Rede stellt. Zuerst weiß man gar nicht, woher die Stimme kommt. Dann die Entdeckung: Dieser Jesus, Brüggens Jesus (Thomas Oliemans), steht vor dem Chor. Wo auch sonst – sagt man sich hinterher: ‚bei seinen Jüngern’ natürlich.
Schon die Aufstellung wird in dieser Regie zum dramaturgischen Mittel im Dienst von Darstellung und Erkenntnis: Die oratorienübliche Solistenriege neben dem Dirigentenpult – abgeschafft. Wo Fläche war, dürfen wir Brüggen dolmetschen, soll Tiefe werden. Zur historisch-informierten Aufführung gehört für Brüggen – wie die Akzentstufen-Hierarchie, wie das Schwer-Leicht des barocken Pulses – die Hierarchie der Perspektiven und Zeitebenen. So steht der Evangelist, da er uns am nächsten ist, vor dem Orchester. Er ist die Brücke, die uns ein inakzeptables Leidensgeschehen übersetzen hilft. Marcus Schäfer macht das auf eine beklemmende Weise, indem er uns einen von der Passion ergriffenen ebenso wie von ihr abgestoßenen Chronisten vorführt. Da ist das gespielte Unbeteiligtsein des vermeintlich „objektiven“ Berichterstatters, die, quer dazu, ehrlich mitfühlende Betroffenheit, schließlich, scheinbar bruchlos, die sensationsheischende und die Sensation vermeldende Stimme des Marktschreiers, der die Katastrophe sekundiert.

Hinter diesem hochneurotischen Evangelisten, mitten ins Orchester hat Brüggen seine Solisten platziert – eine glockenhell intonierende Carolyn Sampson („Zerfließe mein Herz“), einen soliden Peter Kooij („Mein teurer Heiland“), aber auch einen, auf verstörende Weise den vertrauten Passions-Alt ersetzenden Altus. Das Allzu-Gewohnte ist zu irritieren, zu destruieren – solche, auf Klärung der Verhältnisse zielende Verweigerungshaltung muss Brüggen dazu veranlasst haben, uns in den Schlüssel-Arien „Von den Stricken“ und „Es ist vollbracht“ mit Michael Chance einen Kastratenton zuzumuten. Das Überschnappende in der plötzlichen Dur-Wendung „Der Held aus Juda“ – pure Groteske. Was der Hörer erwartet, so Brüggens listig adornitischer Fingerzeig, ist das Unwahre.

Überhaupt gibt es in dieser Passion, dies macht diese konzise Aufführung vor Bachs Taufstein mit einer sprechenden „Cappella Amsterdam“, einem seraphisch aufspielenden „Orchester des 18. Jahrhunderts“ deutlich – es gibt in diesem Schmerz- und Leidensdrama schlechterdings nichts zu bejubeln. Brüggens Skepsis gegenüber einer brusttönig protestantischen Aufführungstradition wird manifest an seiner tiefenpsychologisch ausgelegten „Erwäge“-Arie. Nicht nur stellt Marcel Beekmann seine glasklare Tenorstimme in den Dienst eines Aufhellungsunternehmens, sondern – als ob der Chorraum der Georgenkirche kurzzeitig zur Opernbühne avanciert wäre, verzieht er angewidert sein Gesicht, wenn er auftragsgemäß aus dem „blutgefärbten Rücken“ „Gottes Gnadenzeichen“ herausliest. Mit anderen Worten: der Solist und sein Dirigent sind die Ersten, die angesichts einer nur via Sadomasochismus gelingenden Heilsvergewisserung ihre Ekelreaktion interpretatorisch ernst nehmen. Eine offene Wunde, zu deren fachmännischer Versorgung Brüggen einen spontan überzeugenden, höchst bemerkenswerten Vorschlag unterbreitet hat.

Brüggen selbst – gebrechlich, gebeugt – muss dabei förmlich ans Pult geführt werden. Dort aber blüht er auf, wird zum unbestrittenen Zentrum des Geschehens. Minimal seine Zeichengebung. Für Dehnungen, für Stauchungen der Tempi, der Dynamik genügt ihm ein leichtes Drehen der Hände, ein Nicken des Kopfes. Schon im Eingangschor zieht er damit der sich in Sicherheit wiegenden Hörgewohnheit den Teppich unter den Füßen weg: durchgängiges Piano, sprechendes Singen. Dass Brüggen das Pathos einer Verkündungsmusik gänzlich abhanden gekommen, dass ihm die triumphalen Gesten fragwürdig geworden sind, ist hörbar von Anfang an. Konsequent ersetzt er das akklamierende „Herr unser Herrscher“ durch eine Art Zwiegespräch. Die Passion als Selbstgespräch einer zweifelnden Seele. Die Worte beim Wort, die Töne kammermusikalisch zurückgenommen. Neues Licht aufs alte Werk.
 

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