Ein machtgieriger „Bankster“ ruiniert ein gegnerisches Institut von Weltgeltung; als er nicht genug Boni einheimst, sogar gekündigt wird, tritt er in Dienste des eben attackierten „Feindes“; dort soll er prompt seinen bisherigen Geldgeber angreifen; ihm wird der „Verrat“ aller Geschäftsprinzipien bewusst; er will deshalb eher Selbstmord begehen, woraufhin sein neuer Boss – von soviel Edelmut beeindruckt – den Finanzkrieg abbläst, den Topmanager und seine gleichfalls unter Druck gesetzten Kinder zum fröhlichen Miteinander auffordert.
So ließe sich die Handlung um Temistocles, den griechischen Sieger über die persische Flotte in der Seeschlacht bei Salamis, aktualisieren: Er wurde ja damals per Scherbengericht aus Athen verbannt, ging an den persischen Hof und soll angesichts der Aufforderung durch Xerxes, gegen die Heimat Krieg zu führen, Selbstmord begangen haben. Diese dramatische und moralische Verstrickung haben 1736 Pietro Metastasio für die Wiener Oper und dann 1772 der Hofpoet Mattia Verazi für den musikdramatisch führenden Mannheimer Hof gestaltet.
Zum Namenstag des noch kurpfälzischen, bald aber kurbayerischen Fürsten Carl Theodor sollten die hier geforderten Tugenden – speziell „costanza“ und „clemenza“ - gemäß den aufklärerischen „Fürstenspiegeln“ brillant in Szene gesetzt werden. Als Komponist wurde der wegen seiner italienischen Erfolge nun in London hochgeschätzte Johann Christian Bach engagiert – der „Paradiesvogel“ unter den begabten Söhnen des Thomaskantors. Da die Uraufführung mitsamt zwei großen Balletteinlagen über fünf Stunden gedauert haben soll, die überlieferte Partitur gute drei Stunden Musik enthält, ist eine Bearbeitung angebracht.
Am Mannheimer Nationaltheater haben nun Regisseur Joachim Schlömer und sein Bühnenteam eine pausenlose 100-Minunten-Fassung vorgestellt. Als sein eigener Bühnenbildner wollte Schlömer wohl eine Mischung aus antik griechischer Bühne und zeitgenössischem, körperbetontem „action“-Theater vorführen. So tritt mehrfach zwischen den Arien ein „Chor“ aus fünf Schauspielern auf, spricht, brüllt und stöhnt halb erklärende, halb kommentierende Zwischentexte und umwuselt nicht immer dramatisch nachvollziehbar die sechs Hauptfiguren. Sie lässt Schlömer direkt hinter dem halb hochgefahrenen Orchester auf einem bühnenbreiten, schmalen Steg vor einer halbhohen Wand mit begehbarer Stufe „agieren“: ob aus Sicherheitsgründen notwendig oder dramaturgisch tiefsinnig, aber nicht recht nachvollziehbar, müssen sich die Hauptfiguren immer wieder mit kürzeren oder längeren Stahlseilen an den Rückwänden anketten. So können sie sich ein paar Mal über die jeweilige Vorderkante lehnen: „über dem Abgrund hängen“ – mehr dramaturgischer Gewinn des Aufwands stellt sich nicht ein, vielmehr dagegen „Umständlichkeit“, „störendes Geklimper“, „dramaturgischer Quark“. So hat Schlömer auch aus Falk Bauers goldenen Satin-Anzügen für alle(!) keinen interpretatorischen Gewinn gezogen. Am schlimmsten aber wirkte, dass er für die in ihren Gefühlslagen kompositorisch klar ausdifferenzierten Arien und Ensembles keine Personenregie entwickelte.
So stellte sich erst Mitleid und dann doch Freude an den Sängern ein. Szabolcs Brickners Temistocle beeindruckte gleich eingangs mit der schon auf Mozarts „Clemenza di Tito“ vorausweisenden Arie „Fosca nube“. Alle übrigen Solisten klangen gut – überragt von Cornelia Ptassek als Temistocles Tochter Aspasia: ihre Klage des seelischen Elends zwischen Vater, Bruder, dem anreisenden geliebten griechischen Gesandten und den erotischen Attacken Xerxes’ geriet zum emotionalen Höhepunkt des Abends.
Das war auch das Verdienst von Dirigent Reinhard Goebel mit dem Mannheimer Orchester in Originalbesetzung. Er setzte nicht nur die emotionalen Werte der Arien reizvoll von einander ab, sondern machte auch die damals innovativen Züge in Bachs Komposition hörbar: da leiten ein, umspielen und begleiten die Arien mal Solo-Oboe, dann Solo-Fagott und auch drei Klarinetten; die orchesterbegleiteten Rezitative besitzen dramatischen Zug; angesichts von zwei gestrichenen Finali beeindruckte nun nur das letzte mit seinem stufenweisen Einsatz der einzelnen Solisten zum dann kompletten „lieto fine“-Ensemble. Ob aber Bachs „Temistocle“ uns wirklich etwas zu sagen hat, davon teilte diese „Fassung“ nichts mit.