Also sprach Franz Hummel: „Jeder wirklich musikalische Mensch ist ein Romantiker…“ Entsprechend habe er versucht in seiner Nietzsche-Oper mit einer „selbst erfundenen Romantik“ dem Geist der Epoche nachzuspüren und Nietzsches Denken in einen musikalischen Raum zu versetzen. Die Uraufführung des „Zarathustra“ am Theater Regensburg machte den Zwiespalt zwischen dieser eher abstrakten Haltung und dem Wunsch des Auftraggebers und Regisseurs, Intendant Ernö Weill, nach einem biografischen Stationentheater spürbar.
So erfahren wir also, dass Nietzsche ein Picknick im Freien dem Mittagessen im Frauenhaushalt vorzieht, werden Zeuge der Frack-Anekdote, die der schicksalhaften Begegnung mit Richard Wagner vorausgeht, bekommen vorgespielt, wie diese Freundschaft ebenso in die Binsen geht wie die zunächst im hymnischen Liebesduett besungene Beziehung zu Lou Salome, und hören den irren Denker schließlich in der Anstalt „Gott ist tot“ schreien.
Dem intelligent-sinnlichen Bühnenbild von Karin Fritz ist es zu verdanken, dass diese Szenenfolgen zumindest optisch einen gewissen Theaterzauber entfalten. Der Quader des ersten Bildes zerteilt sich in drei von nun an frei im Raum zu verschiebende Rahmen, die, unterstützt von der Lichtregie Martin Stevens’, immer neue Perspektiven und Fokussierungen erlauben.
Dies korrespondiert mit der Auffächerung der Nietzsche-Figur in drei Persönlichkeitsebenen: Während der junge Nietzsche, von Jasmin Etezadzadeh in schwärmerisches, nicht durchweg raumfüllendes Mezzo-Timbre gekleidet, als Seiltänzer (Nietzsches verletztes Ich) weiter präsent bleibt, steht dem erwachsenen Dichter (mit kontrolliertem Hochdruck: Kai Günther) ein bis auf eine Ausnahme unsichtbarer Zarathustra zur Seite. Transzendiert zu einem Gesangstrio (Anna Fischer, Jung-Hwan Choi, Sung-Heon Ha) erklingt Nietzsches Denken in Originalzitaten somit aus dem Lautsprecher, eine akustisch leider vollkommen unbefriedigende Umsetzung einer musikalisch durchaus reizvollen Idee.
Weitere Tiefendimensionen versucht das Ballettensemble in der Choreografie Olaf Schmidts erfahrbar zu machen. Das gelingt mit dem ersten, bühnentechnisch beeindruckend umgesetzten Seiltanz, und auch die ersten Gruppenbewegungen der in schwarze, punktuell schillernde Ganzkörperstrümpfe gesteckten Tänzer haben eine ganz eigene körperliche Kraft. Als würden die versehrten Skulpturen eines Giacometti zu Leben erwachen, so verkrümmen sie sich zu bizarren Formationen, verstiegenen Denkgebilden.
Bei weiteren Auftritten nutzt sich das Bewegungsrepertoire ein wenig ab; der vorletzten Szene, in der Nietzsche in seinen Erinnerungen förmlich eingesperrt ist, können die Tänzer nicht das an Intensität geben, was dem theatralischen Konzept hier fehlt. Gerade weil nun alle Personen noch einmal ihre, von gesprochenen Einspielungen bedeutungsschwer aufgeladenen Kurzauftritte haben, wird die mangelnde Tiefenschärfe der zuvor allzu brav absolvierten szenischen Begegnungen um so deutlicher.
Das liegt freilich nicht nur an Sandra Hummels, größtenteils aus Originalmaterial kompiliertem Libretto, auch Franz Hummel gelingt es selten, mit seiner Musik Spannungsbögen aufzubauen, die weiter tragen als von einem Zitat zur nächsten Stilübung. Vorhersehbare Rückgriffe auf Wagner und, nach Nietzsches Entfremdung, auf Brahms (Klaviermusik, mit dezenten Streicherdissonanzen umwölkt) und Bizet werden ebenso routiniert eingebaut wie eine Dies-Irae-Verfremdung, Broadway-Anklänge im Federballduett mit Cosima oder Fin-de-Siècle-Schwulst im tremolierenden Liebestaumel mit Lou Salome (höhensicher: Gesche Geier).
Dort, wo er einen durchaus sperrigen eigenen Tonfall anschlägt, kommt immerhin Hummels Theaterpranke zum Einsatz: dräuendes Blech samt Pauken, wenn Nietzsche zum Militär eingezogen wird, ein dumpfer Pizzicato-Teppich zur zweiten Tanzszene oder – auch szenisch dank Papiertheateroptik der stärkste Moment – die hysterisch sich überschlagende Bayreuthparodie samt Zwischenrufern aus den Logen. Langweilig, das muss man Hummel und Regisseur Weil lassen, wird’s an diesem Abend nie.
Das Philharmonische Orchester arbeitet sich unter der Leitung von GMD Tetsuro Ban geduldig und mit beachtlichem Einsatz durch die rhythmisch mitunter äußerst vertrackte Partitur, der Chor (Christoph Heil) ist nicht nur stimmlich (schöne A-capella-Passagen), sondern auch szenisch von beeindruckender Präsenz. Das ganze Ensemble (Markus Ahme als Richard Wagner, Seymur Karimov als Paul Rée seien stellvertretend noch genannt) meistert die Herausforderung mit Bravour, der Jubel gilt am Ende allen Mitwirkenden ebenso wie Hummel selbst.
Wahrscheinlich haben wir an diesem Abend mehr über ihn erfahren als über Friedrich Nietzsche.