Was um Himmels willen ist in uns gefahren, dass wir mehr oder weniger regelmäßig an einem Wochenabend oder zu einem anderen Termin eine Chorprobe besuchen? Die Freizeitindustrie bewirbt uns doch mit viel attraktiveren und weniger anstrengenden Angeboten. Warum konzentrieren wir uns derart, quälen uns durch die schwierige Notenschrift, geben während zweier oder mehr Stunden geistig und körperlich unser Bestes? Die Nuance beim hohen A des Soprans, die fremdsprachigen Texte, rhythmische Klippen, ungewohnte Zusammenklänge, stilistische Details, angeordnet durch die Leitungsperson, über welche das ganze Ritual abläuft. Viele von uns singen über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Nein, das gemütliche Bier danach oder der Applaus beim gelegentlichen Auftritt sind nur äußerliche Gründe für eine mögliche Antwort.
Ein Deutungsversuch: Bei Probenbeginn müde vom Tagesgeschehen, in Gedanken noch bei der Arbeit oder woanders, unkonzentriert, unvorbereitet, vielleicht lustlos. Und am Schluss der Probe? Entspannung, Freude, Zufriedenheit, das zuletzt gesungene Lied bleibt als Ohrwurm im Nachklang. Was ist geschehen? Eine von jedem Einzelnen unter uns frei gewählte, konzentrierte Arbeit mit Tönen, Klängen, Melodien und Formen. Aufeinander hören, sich einfügen, gemeinsam den Wohlklang suchen, sich kraftvoll in denselben hineingeben. Wenn es rund läuft, ist Chorgesang mehr als die Summe der durch die Mitglieder eingebrachten Stimmen, dann reichert sich das Klangbild an. Dies geschieht nicht im individuellen Wettbewerb, sondern in einer äußerst subtilen nachbarschaftlichen Zusammenarbeit im Stimmregister und darüber hinaus im Chor. Es gibt Klangmomente, die wir uns gar nicht zutrauen oder erst dann, wenn die Leitung diese positiv quittiert. Guter Chorgesang bedingt eine innere Ausgeglichenheit der Singenden und ist eine Manifestation unserer „leisen Töne der Brust“ (Rückert). Ob Chorsingen dazu noch gesundheitsfördernd ist, wie behauptet wird, bleibe dahingestellt. Tatsache ist, dass wir während zweier Stunden organisch aus- und einatmen und dabei eine möglichst stabile Balance zwischen körperlicher und geistiger Aktivität finden. Wir übernehmen eine begrenzte Verantwortung für Stimme und Sicherheit und gehen davon aus, dass unsere Mitsängerinnen und Mitsänger dies auch so halten.
Woher kommt diese langlebige Tradition? In der Aula eines Zürcher Gymnasiums hängt ein gesticktes Bild aus der Zeit von Hans Georg Nägeli (1773–1836), dem Schweizer „Sängervater“. Darauf steht „Volksbildung ist Volksbefreiung“, ein Zitat des deutschen Pädagogen Heinrich Zschokke, der glaubte, das Kind könne durch Bildung zu Autonomie und Bewusstsein kommen. Nägeli selbst hatte sich nach den Ideen Pestalozzis für Singen und Chorgesang eingesetzt, was er in einem theoretisch-praktischen „Lehrwerk des Gesangs“ dokumentierte. Er ging davon aus, dass die Vorbereitung für den Chorgesang in der Schule zu erfolgen hätte und dabei eine staatstragende Wirkung entfalten könne: „Im Gebiet der Singkunst bildet sich durch den Chorgesang der gesellschaftliche Mensch.“
Leider wissen wir unterdessen, dass auch das Chorwesen nicht immer vor Missbrauch gefeit war und bei mancherlei Ideologisierung Hand zu bieten hatte. Zum Glück kann sich auch das Gegenteil einstellen: Zur Zeit der sowjetischen Besatzung im Baltikum war das Absingen einheimischer Hymnen bei Strafe verboten (Androhung von Arbeitskündigung oder gar Sibirien). An Großanlässen während der Perestroika wurden diese Hymnen trotzdem als friedliche Demonstration angestimmt, nicht zuletzt im August 1989 anlässlich der riesigen Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius – ein Ereignis, welches im Rückblick die „Singende Revolution“ genannt wird.
Die immer wieder beschworene Krise des Chorgesangs kann im Fall von überalterten und vorwiegend vereinsorientierten Gruppen und Verbänden tatsächlich ein Problem sein. Auf der anderen Seite bilden sich in den letzten Jahrzehnten erfreulich viele neue Formen von Chören und Vokalgruppen, jünger, freier, lockerer organisiert, oft projektorientiert und mit einer gewissen Resistenz gegenüber dem Verbandswesen. Zudem entstehen verheißungsvolle Klangkörper, welche bezüglich Leitung und chorischer Leistung deutlich professioneller aufgestellt sind.
Sieht die Chorszene in zehn Jahren genauso farbig aus wie heute? Vom Kinder- und Jugendchor über den Schulchor zum Studentenchor, vom Renaissanceensemble über den Projektchor zum Singalong, vom Handwerkerchor über „Kultur und V(F)olk“ zum Avantgarde-Ensemble, von „Ü-30“ über „Ü-60“ zum Altersheimchor, vom Bachchor über die Close-Harmony-Section zum Mittagschor im Großbetrieb? Wenn wir Hans Georg Nägeli ernst nehmen, dann sind in der Schule gut ausgebildete Lehrkräfte notwendig, welche die Bedeutung des Mediums Chor idealerweise bereits seit ihrer Jugendzeit kennen, die ihre Chorarbeit aber sinnvollerweise auch als Gewaltprävention oder Drogenprophylaxe verkaufen. Auf der anderen Seite ist von den Verbänden, den Musikhochschulen und in der Lehrerbildung eine hohe Qualität der Aus- und Weiterbildungstools für Chorleitende und -interessierte zu fordern.
Meine Schlussbemerkung: Wenn ich im Interview (Seite 21 in diesem Heft) lese, dass sich am geplanten Chorfest in Frankfurt sowohl der Staatspräsident als auch der Finanzminister einfinden werden, dann kann ich als Schweizer nur etwas beschämt die offensichtliche Bedeutung des deutschen Chorwesens bewundern.