Mülheim an der Ruhr, im Oktober. Soviel Leichtigkeit ist selten. Schon gar in der Kirche. Wenn überhaupt, dann muss sich dieses flüchtige Wesen namens Utopie so anfühlen wie hier.
Man nehme dazu: Ein utopiebereites Publikum, Trompete, Synthesizer, neun Harley-Davidson-Fahrer, einen listenreichen Komponisten (Dieter Schnebel), versammle das Ganze in einer Menagerie, hier: Vorplatz der altehrwürdigen Petrikirche, lasse die wilde PS-Gewalt wie die Löwen im Zirkus allerlei Kunststückchen vollführen, lasse Dunkelheit ein- und Hunger ausbrechen. Fertig. Wofür? Für einen Obstsalat à la John Cage. Utopie jetzt!
Das Ohr isst mit. Und die Köche? Die sind Interpreten, während dreier Tage vielbeschäftigte Mitglieder des Ensembles Polyphonie T, das Hausensemble des künstlerischen Leiters Manfred Schreier, der auch bei dieser achten „Utopie jetzt!“-Ausgabe von seinen bis in die Fingerspitzen motivierten Trossinger Studenten begleitet wurde. Jetzt sitzen sie in der Reihe, falten Papier-Schüsselchen, bestücken sie mit Frucht und Käse und reichen das Manna freundlich durch die Reihen. Dazu, zu den Tafelfreuden –wie anders sollte Utopie auch sonst gehen? – Tafelmusik.Dabei waren die Beiträge des Oboisten James Turnbull mit Benjamin Britten sowie des Flötisten Valerio Fasoli mit Younghi Pagh-Paan tatsächlich Intermezzi, spontane Lückenfüller für den ausgefallenen Programmschwerpunkt „Diesseits und Jenseits“. Krankheitsbedingt blieben Messiaens „Trois petit Liturgies de la Presence divine“ ungehört. Andererseits: Zur „göttlichen Gegenwart“, soviel teilte sich an diesem leichten, zeichenhaften Mülheimer Konzertabend durchaus mit, zur „Presence divine führen viele Wege.
Fürs Leitungsteam um Manfred Schreier, KMD Gijs Burger, den Hausherrn an der protestantischen Petrikirche, und die Organisten Andreas Fröhling und Klaas Hoek führt der Weg dorthin entschieden über „Alt und Neu“ (Schola Heidelberg unter Walter Nußbaum mit Palestrina, Gesualdo, Rossi, Hans Zender, Nigel Osborne, Jingyun Kim und Matthias Kaul), über eine „Utopie-Werkstatt“ für Schüler (Gerhard Stäbler, Kunsu Shim), über „Ost und West“ (WDR Rundfunkchor Köln mit Blockflötist Jeremias Schwarzer und Kotospielerin Makiko Goto) und – nicht zuletzt – mit besagten Köchen, Bikern und Kellnern. Merke: Utopie interpretieren – Obstsalat à la Cage servieren.
Alles gut? – Nicht ganz, gab es in dieser Mülheimer Utopie-Ausgabe durchaus auch Ausfälle. Dabei fiel der auf der Strecke gebliebene Messiaen im Nachhinein weniger ins Gewicht als eine finale Beinahe-Katastrophe im abschließenden dritten Konzertabend „Ferne und Nähe“. Hans Zenders komponierte Interpretation für Tenor und Orchester nach Schuberts „Winterreise“ markierte die Zäsur. Im „Rückblick“ geschieht das Unfassliche. Dirigent Manfred Schreier, bis zu diesem Zeitpunkt souveränes Zentrum einer unter die Haut gehenden Aufführung (Sa-Hoon, Tenor / Ensemble Polyphonie T) erleidet einen Zusammenbruch, stürzt vom Pult. Lähmende Schrecksekunde. Was tun? – Nur dem beherzten Eingreifen einer Heilpraktikerin ist es zu danken, dass Schlimm
Tage später meldet sich Schreier aus dem Krankenhaus mit einem Brief an die geschockten Musiker zurück, worin er seine „baldige, geläuterte Rückkehr in die Arbeit“ ankündigt. Es wäre zu hoffen! Dazu auch von hier aus die allerbesten Wünsche!
Ein Gespräch mit Manfred Schreier folgt in der Dezember-Ausgabe der nmz.