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Vladimir Tarnopolski. Foto: Olympia Orlova

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Offener Brief: Vladimir Tarnopolski nicht abschieben

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Die nmz möchte an dieser Stelle ein Anliegen öffentlich machen, das ein offener Brief von Kerstin Holm, Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, adressiert, das aber die gesamte Kulturbranche, wenn nicht uns als Gesellschaft betrifft: Dem Komponisten Vladimir Tarnopolski, der als Reaktion auf den Ukraine-Überfall Russlands sein Heimatland verlassen hatte, drohe, am 10. September nach Russland abgeschoben zu werden oder sich einem Berufsverbot hinzugeben. So schildert es Kerstin Holm in dem offenen Brief, den sie auf Initiative von Tarnopolskis Kolleg*innen und Freund*innen aufgesetzt hat. Das Schreiben wird mit allen Unterschriften an diejenigen deutschen Regierungsbehörden geschickt, die über diese Fragen entscheiden: das Bundesamt für Kultur, das Außen- und das Innenministerium sowie die zuständigen Behörden des Landes Bayern, also des Bundeslandes in dem Tarnopolski seit Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine seit mehr als zwei Jahren lebt.

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Die nmz (nmzatnmz.de (nmz[at]nmz[dot]de)) stellt für Menschen, die den Brief mit unterschreiben wollen, gerne einen Kontakt zu der Initiative her. Hier das Schreiben im Originalwortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir bringen unsere tiefe Besorgnis über die drohende Abschiebung aus Deutschland oder eine mögliche Umsiedlung unseres Kollegen, des Komponisten Vladimir Tarnopolski, und seiner Familienangehörigen in ein Flüchtlingslager zum Ausdruck. Tarnopolski, seine Frau und sein Sohn hatten Russland im März 2022 kurz nach dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine und der internen Repression verlassen.

Vladimir Tarnopolski ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen russischen Komponisten, dessen Werke von bekannten Musikern und Orchestern auf den größten Konzert- und Opernbühnen in Deutschland, in anderen europäischen Ländern sowie in den USA aufgeführt werden.

Als Professor für Komposition am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium hatte er entscheidenden Einfluss auf den Entstehungsprozess einer neuen Kompositionsschule in Russland. Er initiierte die Schaffung grundlegender Institutionen für zeitgenössische Musik in Russland: das erste Zentrum für zeitgenössische Musik im Land, das Ensemble „Studio für Neue Musik“ und das internationale Festival „Moscow Forum“.

Mit seinem Ziel, neue russische Musik in den europäischen Kulturkontext zu integrieren, war er fast 30 Jahre lang eine Schlüsselfigur bei der Entwicklung künstlerischer Kontakte in der Sphäre der zeitgenössischen Musik zwischen Russland und europäischen Ländern, vor allem zwischen Russland und Deutschland. Dank seiner langjährigen Bemühungen traten viele berühmte deutsche Musiker und zeitgenössische Musikensembles bei den von ihm geleiteten unabhängigen Festivals in Russland zum ersten Mal auf, fanden Hunderte russische Erstaufführungen von Werken deutscher Komponisten sowie zahlreiche Vorträge und Meisterkurse statt.

Vladimir Tarnopolski ist seit vielen Jahren tief in das künstlerische und gesellschaftliche Leben Deutschlands integriert. Er ist Mitglied des Deutschen Komponistenverbandes, Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, Träger des Paul-Hindemith-Komponistenpreises sowie anderer internationaler Auszeichnungen. 2023 wurde ihm der Preis der Christoph und Stephan Kaske Stiftung verliehen.

Nur vier Tage nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine gab Tarnopolski ein Antikriegskonzert im Boulez-Saal in Berlin. In den zwei Jahren seines Aufenthalts in Deutschland schrieb er fünf große, leidenschaftlich gegen den Krieg gerichtete Musikstücke, die in den bekanntesten Konzertsälen von München (Prinzregententheater), Hamburg (Elbphilharmonie), Frankfurt (Alte Oper), Wien (Konzerthaus), wie auch Berlin, Freiburg, Dresden sowie in österreichischen, norwegischen, italienischen und amerikanischen Städten aufgeführt wurden. In mehreren Städten Deutschlands nahm er an der Tagungsreihe „Kunst und Verantwortung“ teil; auf Einladung der Musikhochschulen München und Dresden leitete er Zyklen von Kompositionsseminaren.

Im Moment wird Herrn Tarnopolski vorgeschlagen, nach Russland zurückzugehen, um ein anderes Visum zu beantragen – wo ihm und seinen Familienmitgliedern nur aufgrund seiner antikriegerischen Gesinnung Strafverfolgung droht – oder ein Asylverfahren mit einem ungewissen Ausgang anzustreben – wobei ihm die Möglichkeit zum künstlerischen Schaffen geraubt wird, da in dem Fall ein Beschäftigungsverbot besteht und somit unmöglich ist, als Musiker zu arbeiten. Paradoxerweise wird einem Komponisten, der Russland aufgrund der Unmöglichkeit künstlerischer FREIHEIT verlassen hat, in Deutschland nahegelegt, das künstlerische Schaffen ganz aufzugeben. So wird einer der bedeutendsten Stimmen russischer Musik aufgefordert, zu schweigen.

Es fällt auf, dass Hunderte Vertreter der russischen Kultur verschiedener Generationen und mit unterschiedlichsten künstlerischen Erfahrungen in Deutschland Aufenthaltstitel erhalten und ihre berufliche Tätigkeit in Deutschland fortsetzen. Und es kommt uns seltsam vor, dass Vladimir Tarnopolski nicht darunter ist. 

Wir wenden uns mit der Bitte an die zuständigen Behörden des Freistaates Bayern und die Bundesbehörden:

Unter Berücksichtigung der großen sozialen und künstlerischen Bedeutung der schöpferischen Tätigkeit von Vladimir Tarnopolski, seines bedeutenden persönlichen Beitrags zur Entwicklung der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland, und in Anbetracht der in seinen Werken und öffentlichen Äußerungen zum Ausdruck gebrachten Antikriegshaltung, ihm und seinen Familienangehörigen als Sonderfall einen Rechtsstatus zu verleihen, der es ihm ermöglicht, seine bürgerlichen Grundrechte – den Aufenthalt in Deutschland ohne Beschränkungen seiner beruflichen schöpferischen Tätigkeit und Bewegungsfreiheit – wahrzunehmen und auch die Gefahr einer Abschiebung ausschließt.

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