Während etwa Kálmáns „Die Czárdásfürstin“ – in der Originalfassung, wie in der Jazzversion durch Nico Dostal – zum unverwüstlichen Stamm des Operettenrepertoires zählt, ist über die nachfolgende Operette „Die Bajadere“ die Zeit merklich hinweg geschritten. Dies liegt primär an der von den Autoren angestrebten Aktualität, dem Versuch der Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald, ein Pendant zur seinerzeit gefragten Zeitoper für das Genre Operette zu schaffen, musikalisch basierend auf modischen Tänzen als aktuellen Schlagern.
Die männliche Hauptrolle eines indischen Fürsten Prinz Radjami knüpfte an den Kinoerfolg der Filme „Das indische Grabmal“ und „Der Tiger von Eschnapur“ an. Und die in Paris angesiedelte Handlung thematisiert Partnertausch und das Geschäft der Claqueurs. Der Komponist schuf dafür eine Mixtur aus pseudoindischer Koloristik, mit viel Schlagwerk (diverse Holztrommeln neben herkömmlichen Trommeln und Pauken, kleinen Becken, Tamburin und Schellen, Tamtam, Xylophon und Glockenspiel), blechgepanzert, mit Klarinettensolo in hoher Lage, Tárogató – oder alternativ Saxophon –, Celesta, Harfe und differenziertem Streichkörper. Ungarische Folklore trifft auf Pariser Flair und setzt auf die zündende Wirkung des Shimmy, als dem damals neuesten Modetanz.
Als „Weihnachtsoperette in drei Akten“ kündigte die Komische Oper Berlin am Abend vor Heiligabend Emmerich Kálmáns „Die Bajadere“ an. Auf den Tag genau fiel das Premierendatum auf die Eröffnung der Komischen Oper Walter Felsensteins vor 65 Jahren – damals allerdings mit Johann Strauß’ „Fledermaus“, und nicht mit der vor 90 Jahren, ein Jahr nach der Uraufführung im Wiener Carl-Theater, erfolgten Berliner Erstaufführung der „Bajadere“. Die aber erklang im Jahre 1922 bereits in jenem Theater, in dem heute die Komische Oper Berlin zuhause ist. So viel zu lokalen Querverbindungen des vor der Zeit des Dritten Reichs in Berlin viel gespielten, damals enorm modernen Operettenkomponisten.
In seinem Opening zog Intendant und Chefregisseur Barrie Koskie launig die Parallele zu einem „jüdischen Kaufmann“: diese Operette biete „zehn Komponisten zum Preis von einem“, die alle in dieser biographischen Partitur Kálmáns, als einem „Stück über das Leben im Exil“, zu finden seien. Daher sei für „Die Bajadere“ auch keine Inszenierung erforderlich.
Gleichwohl wurde die konzertante Produktion an der Komischen Oper Berlin wenn nicht halb-, so doch viertelszenisch aufbereitet, mit einem ersten Auftritt der im Stück im Stück die Bajadere verkörpernden Odette Darimonde in der oberen Proszeniumsloge, mit wechselndem farbigem Licht und reduziertem Spiel der Protagonisten an und neben ihren Notenpulten. Der indische Prinz Radjami trägt den vorgeschriebenen Seidenturban mit Diamantgraffe und Reiherfeder, der Schokoladenfabrikant offeriert eine Bonbonniere, und später kommen als Requisiten noch eine Rose und zwei leere Blätter Papier ins Spiel. Musik und Dialoge der pausenlosen Aufführung sind auf knapp eindreiviertel Stunden eingestrichen.
Dezente lokale Anspielungen schaffen eine Aktualisierung des einst zeitgenössischen Stoffes: so flüstert der Dirigent dem Claqueur Pimprinette ins Ohr, dass die angekündigten Tänzerinnen aus Indostan doch nicht auftreten könnten, da sie „in der Abfertigungshalle in Schönefeld“ festsäßen. Auf Odettes „Schleier, der ihr Antlitz verborgen hält“, verzichtet die dezent szenische Umsetzung, so dass die zauberhaft direkte Erika Roos mit den Nuancen ihrer Mimik die Herzen gewinnt. Ihre intensive Darstellung überbietet noch das Leuchten ihrer (nicht immer ungetrübten) Spitzentöne. Heldenhaftes Pendant zu Roos’ dramatischem Sopran bietet Daniel Brenna in der Partie jenes chauvinistischen Prinzen, der am Ende gleichwohl mit Geld die auf der Bühne bewunderte Bajadere zur Frau gewinnt.
Die luxusgierige Soubrette Marietta gestaltet Mirka Wagner wirkungsstark. Vergleichsweise farblos bleibt der Tom Erik Lie in der Buffo-Partie ihres reichen Gatten, des Schokoladenfabrikanten La Tourette, und arg dünn der Dritte im Bunde, der Tenor-Buffo Stephan Boving als Mariettas Liebhaber Napoleon St. Cloche. Die zahlreichen kleineren Rollen sind gestrichen.
Ein Medley-Finale wiederholt die Hauptnummern zum Mitklatschen – aber die Handlung ist doch arg dünn gestrickt. Da bedarf es zum Erfolg durchaus jener, der Praxis der TV-Studios mit Live-Publikum abgeschauten Applaus-Übungen fürs Publikum, mit der dieser Operettenabend beginnt. Als Pimprinette, Chef-Claqueur des Theaters „Chatelet“, animiert der mikrofonverstärkte Dominique Horwitz Applaus-Salven, führt mit französischem Akzent und lechzender Zunge durch die Handlung und stimmt bisweilen auch schräg in die Gesangsensembles mit ein.
Schwungvoll lädt Stefan Soltesz am Dirigentenpult die Partitur seines Landsmanns Kálmán, mit ihren col legno-Rhythmen und melismatischen Bläsern, der Pentatonik im großen Duett-Zwischenspiel, ungarischer Tanzweise und Foxtrott, emotional auf. Das Orchester der Komischen Oper folgt ihm in Hochform. Der von André Kellinghaus einstudierte Chor muss seine Spielfreude diesmal auf die Tongebung reduzieren, wobei insbesondere ein Solo der Sopranistinnen im Gedächtnis bleibt.
Die Applausanimation des Claqueurs wirkt bis hinein ins rhythmische Klatschen beim wiederholten Shimmy, mündend in einen gesteigerten Schlussapplaus, welcher auch Kálmáns Tochter Yvonne mit einschießt: sie ist zur Premiere aus Mexico angereist und beabsichtigt, sich demnächst in Berlin niederzulassen: denn auch „Kálmán ist zurück in Berlin“.
Rundfunkübertragung in Deutschlandradio Kultur: 29. 12. 2012, 19.05 Uhr.