Mystik als übergeordnete Kategorie von Religion findet vor allem in der Musik ihren tiefen Ausdruck. Johann Sebastian Bachs Kantaten und Oratorien entfalten ihre Emotionalität auch ohne Kenntnis des religiösen Überbaus. Ebenso kann die Musik der islamischen Welt sehr wohl Nicht-Muslimen in spirituelle Stimmungen hinein verhelfen. In Zeiten sich verschärfender Kultur-Konflikten liegt es nahe, das Gemeinsame, Übergeordnete herauszustellen – vor allem auf dem Weg der Musik als ein dankbares Medium.
In diesem Geiste forschte eine aktuelle Produktion bei der Ruhrtriennale die Berührungspunkte zwischen den Sphären aus. Der Titel „Passio Compassio“ verweist auf das Motiv des Leidens und Mitfühlens als zentrales religiöses Motiv. Und die Künstler und Ensembles auf der Bühne der Bochumer Jahrhunderthalle fokussierten sich auf jene geistigen und musikalischen Aspekte, wo am meisten Schnittstellen zu verorten sind. Das türkisch-deutsche Ensemble Sarband, das Modern String Quartet, das Ensemble Vocanima sowie Derwische vom Goldenen Horn zeigten sich an diesem Ort nun als verschieden genug, um ganz unterschiedliche Einflusspähren zusammen zu bringen.
Mit dem Rücken zum Publikum sitzend, waltete Vladimir Ivanoff als Dirigent, als Tonangeber und Taktgeber, wenn er in sparsamer Präzision die Rahmentrommel schlug. Diese erwies sich als verbindendes, vorwärtstreibendes Medium – vor allem in Bachs Chorälen. Einem „Bach-Puristen“ mochte dies zwar auch deutlich machen, dass die Musik des Barock-Meisters eigentlich keine solchen Beigaben benötigt.
Originell und kreativ waren die hier gebotenen Ansätze orientalisch-okzidentalischer Verschmelzung allemal. Die barocke Melodik fand sich angereichert durch „fremdartige“ Legatopassagen auf der Ney-Flöte. Sie erstrahlte in geheimnisvollem Licht dank arabischer Streicherglissandi der Solovioline. Nahtlos flossen Linien des barocken Kontrapunkts in kunstvolle arabische Maqams hinein. Eindringliche, arabisch geprägte Sologesangs-Passagen der stimmgewaltigen Beiruterin Fadia el-Hage und von Mustafa Dogan Dikmen (Istanbul) trafen auf ätherische Bordun-Töne des Kölner Gesangsensemmbles Vocanima, in dem sich vor allem die Alte Musik Europas verkörperte. Das alles förderte Schnittstellen, aber auch Reibungspunkte zwischen zwei hochkomplexen Denk- und Tonsystemen zutage – und war zuweilen der Mischung zuviel. Die Aufführung kanne aber auch erfrischend verspielte Momente: Etwa als Cello und Violine auf Grundlage eines Bach-Chorals zu einer ausgiebigen Improvisation im besten Stephane-Grapelli-Stil abhoben – um schließlich wieder im Bachschen Kontrapunkt zu landen.
Dazu lieferte „Passio Compassio“ einen textlichen Überbau: Bibelworte vereinten sich mit Quellenzitaten aus früher islamischer und frühchristlicher Welt. Und als Höhepunkt entstand eine intensive, für Ohren und Augen gleichermaßen erlebbare Trance. In wallende weiße Gewänder gehüllt, fanden sieben Sufi Derwische vom Goldenen Horn in ihre kreisenden, meditativen bewegungen hinein. Da wurde das Wort Trance seiner eigentlichen Bedeutung gerecht. Trans-ire: der Übergang in ein höheres Stadium von Entrückung.