Anlässlich der gemeinsamen Jubiläumsausgabe von nmz und JMD würdigt die Komponistin und Hochschullehrerin Charlotte Seither das Engagement der Jeunesses Musicales Deutschland für die Kompositionspädagogik.
Dass das Komponieren von jungen Menschen einen eigenständigen Wert hat, steht heute außer Zweifel. Stücke, die aus Kinderhand entspringen, sind sicher nicht immer zur Gänze ausgereift und lassen mitunter noch erkennen, welchen Vorbildern sie nacheifern. Zugleich ist es aber doch das Machen selbst, das diese Stücke wertvoll und den Akt des Komponierens förderungswürdig macht: Jede musikalische Formulierung – so einfach sie auch sei – ist immer auch ein Akt des Handelns, im besten Falle des Sich-Gewahr-Werdens und Weiterwachsens. Alter und Reifegrad des Komponierenden sind dabei – aus prozessualer Sicht – letztlich unwesentlich, weil auch die Arrivierten stets daran weiter reifen, wie man im Lernen wächst und im Wachsen lernt.
Es gehört zu den Verdiensten der Jeunesses Musicales, dass sie all diese Prozesse schon früh erkannt hat. Noch zu Zeiten, in denen es keineswegs üblich war, dem Schaffen eines Kindes Aufmerksamkeit oder gar Bedeutung zu zollen, initiierte sie im Hohenlohischen Weikersheim Kurse, in denen junge Komponierende zusammen kamen, um unter der Leitung von Theo Brandmüller und Martin Christoph Redel an ihren Stücken zu arbeiten.
In den 1980er Jahren, der Zeit, in der auch ich die Kurse als Schülerin besuchen durfte, war dies zumindest in Westdeutschland eine nahezu einmalige Einrichtung. Die Kurse bildeten eine jährliche Achse, um all jene Jugendlichen zu erreichen, die ansonsten alleine zu Hause an ihren Schreibtischen saßen und nicht wussten, wohin mit ihren Noten und den vielen Gedanken drum herum. Vor allem aber boten sie ein Tableau, um den jugendlich Suchenden eine unmissverständliche Botschaft mit an die Hand zu geben: Gut, dass du dich auf den Weg machst! Ich sehe, was du bist! Gehe diesen einen Schritt und nimm dann noch den nächsten!
Die Kurse waren über das Handwerkliche hinaus ein Ort, um der Sprachlosigkeit zu begegnen, unter der man als Jugendliche/r vielleicht am allermeisten litt: der Einsamkeit ob allen Komponierens, die jede/r junge/r Gleichgesinnte nur allzu gut kannte. Man blieb auch hier, im Weikersheimer Kurs, im Wesentlichen für sich allein, doch gab es Querverbindungen, die wie ein Lichtstrahl aufschienen: Man zeigte sich Skizzen oder spielte sich gegenseitig auf dem Klavier vor, was man in großer Runde nie zu zeigen gewagt hätte. Freundschaften entstanden – kostbare Luftröhren der Subkommunikation –, die sich einzig auf das Komponieren bezogen. Über Jahre hinweg tauschte man sich auf jugendlicher Augenhöhe darüber aus, wie es so geht mit dem Komponieren, was man schreibt, über Brüche, Weiterentwicklungen, den Eintritt ins Studium, über Lebensdispositionen in, um und mit dem Komponieren.
Komponistenförderung, das hat die Jeunesses Musicales in Weikersheim eindrucksvoll als Förderhaltung gezeigt, braucht also immer eines: offene Enden – es muss alles möglich sein, so oder so. Niemand wird zum Komponisten, der nicht benevolenten Auges „gesehen“ wird in seinem Lernen und Wachsen – als der, der er ist, aber auch als der, der er noch werden kann. Zum fördernden Sehen gehört dabei immer auch etwas anderes – das Hinhalten des nächsten Steigbügels. Schauen wir zurück: Unterstützt wurden die Bachs, Mozarts oder Beethovens der Geschichte nicht selten schon als Kind von kompetenten Vätern, von dialogfähigen Freunden, mit etwas Glück auch von einflussreichen Gönnern, die dem Werk eine Bühne und damit auch Resonanz, Rezeption und Anknüpfungsoption verschafft haben.
Dass Frauen und andere Minderheiten in der Geschichte, egal wie begabt sie waren, an den zirkulären Systemen von großer Bühne, machtstarken Netzwerken, gut bezahlten Aufträgen oder kanonbildender Rezeption nicht partizipieren konnten, ist heute sicheres Wissen. Viel zu oft konnte ihre Begabung nicht auf jenen Humus fallen, der aus einem Talent eine Professionelle oder gar eine Maestra gemacht hätte. Gelungene Karrieren aber weisen – neben der Begabung – stets auch ein Zweites auf: aktive Förderstrukturen, die von frühauf netzwerkartig ineinander greifen und junge Komponierende weiter bringen. Dafür aber braucht es Menschen wie seinerzeit Theo Brandmüller oder Martin Christoph Redel, die einen weiten Blick haben, und es braucht Institutionen wie die Jeunesses Musicales, die die Begegnung von jungen Komponierenden von langer Hand nachhaltig befeuern.
Damals wie heute wissen wir, dass das pädagogische Umfeld einer Wachstumskultur die Grundvoraussetzung ist für alle musikalische Entwicklung. Menschen werden zu guten, zu besseren oder exzellenten Musikern, weil sie stets einen Schritt vor den anderen setzen und dabei kompetent begleitet werden. Wenn wir über Teilhabe sprechen, Teilhabe der Jungen, der Frauen, der sozial Nicht-Privilegierten, dann müssen wir auch jene Denkmuster an den vielen Orten außerhalb in den Blick nehmen, die noch immer so tun, als sei alles schon immer so und nicht anders gewesen ist. Das Gegenteil ist der Fall: Gute Komponisten haben zu jeder Zeit auf höchst dynamische Weise gelernt. Sie haben aus allem, was sie taten, weiteres Wachstum in ihrer Sache gewonnen, bis sie schließlich die Leiter weg werfen konnten, auf der sie empor gestiegen waren. So entsteht Freiheit. Freiheit aber muss man sich erarbeiten und sie fängt immer ganz klein an. Es kommt also immer darauf an, was man daraus macht, aus all den Anfängen, Grashalmen und Wurzelsprossen.
Congratulations, liebe Jeunesses Musicales, zu 70 Jahren gelungener Wachstumskultur!