1987 kam in Houston (Texas) mit „Nixon in China“ ein Werk zur Uraufführung, das als Neuansatz einer politischen Oper wahrgenommen wurde: Mit dem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten im „Reich der Mitte“ griffen die Librettistin Alice Goodman, der mitkonzipierende Regisseur Peter Sellars und der Komponist John Adams ein „weltpolitisches“ Ereignis auf, das fünfzehn Jahre zuvor für einige Tage die Medien bestimmt und die Veränderung der geostrategischen Verhältnisse sichtbar gemacht hatte.
Insbesondere auch die deutsche Erstaufführung von „Nixon in China“ 1989 in Bielefeld 1989 (inszeniert mit Momenten surrealistischen Witzes von John Dew in einer spartanisch kontrapunktierenden Ausstattung von Gottfried Pilz) wurde als Schritt hin zur Reaktivierung eines verloren geglaubten Terrains verstanden – wobei die Begrifflichkeit wie die Zielrichtung des „Politischen“ bei Goodman sich von der Bertolt Brechts diametral unterschieden. Ohne dass das Werk Illusionen, Hoffnungen oder auch nur regenbogenfarbene Projektionsflächen über das Zusammentreffen und Unterthaltungsbedürfnis der Mächtigen dieser Welt verbreitet hätte, wurde die „Königsebene“ neuerlich zum Gegenstand von opulent-repräsentativem Theater erhoben.
Dabei vermied das Autoren-Trio die Monumentalisierung der staatsmännischen Protagonisten (wie sie z.B. von den russischen Historienopern des späten 19. Jahrhunderts praktiziert wurde), aber auch die grelle Karikatur oder gar politisch pointierte Kritik. Hübsch paritätisch wurden Amerikaner wie Chinesen bedacht: Byzantinische Verhältnisse in Peking kondensieren sich in den Volksszenen wie in trivialen Sinnsprüche des nicht mehr sonderlich frisch wirkenden Großen Vorsitzenden, die drei Sekretärinnen eilfertig minimalistisch repetiert. Andererseits wird die oberflächliche Medienorientiertheit des amerikanischen Spitzenpersonals vorgeführt, dessen Kulturferne und mangelnde Vertrautheit mit den Usancen des Gastlandes.
Die ein Viertel Jahrhundert alte Oper wird nun vom Théâtre du Châtelet in Paris neuerlich angeboten – inszeniert von Chen Shi-Zheng, der 1963 in der Provinz Hunan geboren und in den Techniken der traditionellen chinesischen Oper ausgebildet wurde, dann in New York als Theater- und Filmregisseur reüssierte. Alle drei Schichten der Biographie Chens – die Herkunft, die künstlerische Prägung durch die „Peking-Oper“ und der durch amerikanische Medienerfahrungen geprägte Blick – schlugen sich in der Inszenierung am Seine-Ufer nieder. In schlicht-funktionalen Tableaus lässt Chen die Tage im Februar 1972 Revue passieren, in denen die öffentliche Aufmerksamkeit weltweit auf Peking gerichtet war, über den tatsächlichen Verlauf der politischen Verhandlungen jedoch wenig Substanzielles an die Öffentlichkeit gelangte.
Chen nahm dokumentarisches Material zur Hilfe: Oliver Roset bereitete für ihn Foto- und Filmmaterial vom Alltag der frühen 70er Jahre in den USA auf, das der in ‚amtlichen’ Bildern festgehaltenen Arbeits- und Lebenswelt im Reich der Mitte gegenübergestellt wurde. Die Bearbeitung des Sujets zur Oper erlaubt Kunstgriffe, die seriöser Berichterstattung versagt sind: sie kann Dialoge von den nach außen streng abgeschirmten Gipfelgesprächen zwischen „Tricky Dicky“ und Außenminister Kissinger mit Premierminister Zhou Enlai und Mao zum Klingen bringen (mitsamt dem rücksichtlosen Aneinandervorbeireden und dem unterstellten beständigen Repetieren von Phrasen, die denen der Musik entsprechen). Chen akzentuiert, dass und wie Mao sich als Philosoph stilisiert, raucht, ansonsten schläft.
Etwas lebendiger wird das politische Aussitz- und Durchstehtheater in der zweiten Pariser Halbzeit: Frau Nixon werden die Sehenswürdigkeiten des Landes gezeigt (eine Fabrik für gläserne Nippes-Elefanten, ein volkskommunaler Schweinestall, ein Krankenhaus und Sehenswürdigkeiten aus den Zeiten der Ming-Dynastie); Embleme der Institutionen werden dekorativ in Glasvitrinen über die Bühne kutschiert. Und dann kommt das Highlight: Besuch einer Vorstellung der in Bonbonfarben getauchten Peking-Oper „Das rote Frauenbataillon“ (mit Hilfe von Yin Mei gleichsam ‚authentisch’ choreographiert und historistisch-virtuos getanzt). Pat Nixon verwechselt da Kunst und Leben, indem sie peinlich-grotesk in die Szene eingreift.
Die wasserstoffsuperoxydblond aufgebrezelte June Andersen gewinnt der Rolle der als unsäglich naiv vorgeführten Präsidentengattin spröden Reiz ab und punktet mit trivialen Melodien über aufreizend wiederholten Formeln des Orchesters. Franco Pomponi gibt glaubhaft einen selbstzufriedenen, völlig uncharismatischen US-Präsidentendarsteller, der im Eifer des Sendungsbewusstseins das rhetorische Mäßigungsgebot missachtet: Richard Nixon verglich seine Ankunft in Peking mit der Mondlandung von 1969, mit der die USA im Wettrennen gegenüber der Sowjetunion gepunktet hatten. Pomponi nutzt dies neuerlich für ein grandios-groteskes pompöses Arioso. Alfred Kim trägt maßgeblich mit seiner Heldentenorstimme dazu bei, dass die Entmythologisierung des greisen chinesischen Diktators auch heute noch halbwegs funktioniert. Mit schneidigem Auftreten und gelegentlich schneidend scharfem Sopran lässt Sumi Jo als Madame Mao die Gefährlichkeit der als Kurtisane zur Macht gekommenen Intrigantin ahnen.
Der dritte Akt ist der heikelste. Da wird moderne Staatslenkerkunst halb aufs Korn und halb als Hohes Lied genommen (die Librettistin brachte eine gute Portion politisches Anliegen unter). Instrumental unterfüttert bzw. melodisch überwölbt wird friedliches Miteinander der beiden hohen Paare, gefolgt von einer verklärend-versöhnlichen Abschiedsarie Zhou Enlais. Konzipiert war dies, so John Adams, ursprünglich als ein Beitrag zur Analyse der „amerikanischen Psyche im Verhältnis zum Rest der Welt“. Die Urheber des Werks wollten mit wohltemperiertem Scherz, Satire und Ironie tiefere weltpolitische Bedeutung betönen – auch das ein amerikanischer Traum.
Vor 25 Jahren wirkte die epische Musik von John Adams im Zusammenhang der unreinen politischen Gemengelage für viele Ohren noch befremdlich. Inzwischen wird sie als Parallelerscheinung zur Pop-Malerei wahrgenommen – die simplen Dreiklangsfolgen und rhythmisch lebendigen Repetitionsmuster korrespondieren den Bilderserien von Andy Warhol. Niemand ereifert sich mehr über die ans Musical erinnernden Melodiebögen, die sich der europäischen Avantgarde entgegenstemmten. Der deftige Revue-Schmiss und die beseligende Vokal-Apotheose der Schluss-Szene sind wohl unverzichtbar, damit sich Gift und Güte auf diesem neuamerikanischen Weg des Musiktheaters die Waage halten können. Das französische Premierenpublikum reagierte auf all das eher gelangweilt und geizte mit Applaus.