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Politikers Traum: Für drei Groschen Oper?

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Tendenzen im öffentlichen Musikleben in Deutschland
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Unser Autor Stefan Meuschel ist Geschäftsführer der Vereinigung Deutscher Opernchöre und Bühnentänzer e.V. in der DAG, München. Seine Bestandsaufnahme an den deutschen Opernhäusern basiert auf den Statistiken des Deutschen Bühnenvereins. Sie offenbart die zunehmende Erosion der künstlerischen Substanz an den Musik-und Tanzbühnen des „Musiklandes Deutschland“.

An der Schwelle zu einem Jahrhundert, in dem die digitalen Medien auch die Musikkultur zu bestimmen sich vorbereiten, die kommerziellen und technischen Strategien hierfür erkennbar werden, drängt sich der Gedanke auf, das öffentliche Musikleben mit der dem Franz von Assisi geweihten glitzernden Geld- und Geist-Metropolen Kaliforniens zu vergleichen, die da teils auf, teils an den Rändern des St. Andreas-Grabens liegen. Die tektonischen Verwerfungen und Verschiebungen sind meßbar und registriert; jedermann in San Francisco glaubt zu wissen, daß ein Erdbeben kommen wird, niemand weiß wann. Jedermann redet darüber, kaum jemand bereitet sich darauf vor. Dumpfes Vertrauen waltet, die technischen Vorkehrungen könnten die verheerenden Folgen, wie sie 1906 eintraten, wenigstens mildern. Die Auswertung der sorgfältig erarbeiteten Spielzeit-Statistiken des Deutschen Bühnenvereins, die über die Zahl der Veranstalter und Veranstaltungen, über Einnahmen, Zuweisungen und Besucherzahlen der Theater und Kulturorchester Auskunft geben, ähnelt der Bewertung aktueller tektonischer Veränderungen: Für die kurze Frist eines Jahres sind sie meist marginal; erst die Langzeitbeobachtung erlaubt Aussagen zur Tendenz. Erkennbar sind der fortschreitende Personalabbau, der sich seit 1993 nunmehr der Neun-Prozent-Marke nähert, und, diesen erklärend, die nahezu stagnierende Höhe der Betriebszuschüsse (3,6 Milliarden Mark). Kostensteigerungen, auch die Tarifanhebungen, müssen aus den, zum Teil für mehrere Jahre festgeschriebenen, den sogenannten „gedeckelten“ Etats beglichen werden. Die Verbesserung der prozentualen Einspielergebnisse – von 13,2 Prozent in der Spielzeit 1993/94 auf 14,7 Prozent in der Spielzeit 1996/97 (620 Millionen Mark) – reicht nicht aus, das Öffnen der Schere zwischen Kosten und Betriebsmitteln nachhaltig zu verhindern. Erneut leicht angestiegen ist die Zahl der Veranstaltungen und der Besucher, allerdings beschränkt auf die Sparten Musical, Tanztheater, Schauspiel und – geringfügig – Konzerte. Zu den erkennbaren Tendenzen gehören auch die Umwandlung von Regiebetrieben in privatrechtliche Gesellschaften (zuletzt: Chemnitz und Regensburg) sowie die Bildung von Gemeinschaftstheatern. Nach den Fusionierungen von Gelsenkirchen/Wuppertal, Greifswald/Stralsund, Döbeln/Freiberg, Eisenach/Rudolstadt, Halberstadt/Quedlinburg wird derzeit die Zusammenlegung von Plauen/Zwickau und Erfurt/Weimar betrieben; wie im Land Brandenburg mit den Bühnen in Potsdam, Frankfurt/Oder und Brandenburg verfahren wird, läßt sich nur besorgt ahnen. Am Beispiel des Vogtland-Theaters Plauen, einer 70.000 Einwohner zählenden Stadt im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch, lassen sich Sinn und Unsinn derartiger Zusammenlegungen, wie sie Altenburg und Döbeln bereits erleben mußten, verdeutlichen: Würde das Musiktheater, wie angedacht, ganz nach Zwickau verlegt, gewänne die Stadt Plauen zumindest befristet Etat-Planungssicherheit, verlöre aber die gewachsene, sehr dichte musikalische Infrastruktur. Und ob „das Gastspiel“ aus Zwickau von der Plauener Bevölkerung noch als „ihr“ Musiktheater begriffen würde, ist fraglich. Es sind die Kommunen, die rund 50 Prozent der Zuweisungen für die Theater und Kulturorchester aufbringen, und oft genug korreliert die Höhe ihrer Mittel mit den Zuschüssen des Landes. Die geographische Betrachtung der fusionierten oder fusionsbedrohten Theater und Orchester ortet die Krisengebiete: die kleineren und mittleren Kommunen auf dem flachen Land, vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die eine weit höhere Zahl stehender Ensembles unterhielt als die westdeutschen Länder (1989: 117 Ensembles mit rund 17.000 Beschäftigten). Exemplarisch ist die Lage des Deutschen Nationaltheaters Weimar, das künstlerisch, nicht zuletzt dank seiner Staatskapelle unter der Leitung George A. Albrechts, zu den Spitzen-Ensembles gehört: Wie kann die Stadt, kleiner noch als Plauen, als Rechtsträger des DNT sich gegen die Fusionsabsichten der thüringischen Landesregierung und -hauptstadt wehren, wenn der Etat ihres Theaters zu mehr als 90 Prozent vom Land finanziert wird? Dem DNT Unterstützung zukommen zu lassen, beispielsweise durch Errichtung einer Stiftung, wäre Aufgabe künftiger Bundes-Kulturpolitik, wenn sie denn Sinn machen soll. Bundeskulturpolitischer Handlungsbedarf besteht auch im Krisengebiet Bundeshauptstadt Berlin, das immer noch unter den Hypotheken leidet, die von den kommunikationsunwilligen Schreibtisch-Strategen Ulrich Roloff-Momin und Ivan Nagel hinterlassen wurden. Der mutwillig herbeigeführte Konkurs des Metropol-Theaters, die Auseinandersetzungen um den Fortbestand der Berliner Symphoniker und die menschenverachtenden, mal so eben von 42 Kündigungen begleiteten Vorbereitungen zur Gründung eines Berliner Tanz-Theaters verraten die künstlerische Konzeptionslosigkeit – auch auf der Leitungsebene der Institutionen – mehr noch als wirtschaftliche Schwierigkeiten des Landes Berlin. Wenn denn die Schließung einer Musikschule als Anschlag auf die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gewertet werden muß – so Bundesinnenminister Otto Schily, und den Angesprochenen in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen haben, so ist zu hoffen, die Ohren geklungen – was ist dann erst das Schließen eines ganzen Theaters? Nimmt die Politik die Gefährdung der inneren Sicherheit sehenden Auges in Kauf? Oder wartet sie, bis die Bürger auf die Straße gehen? Vielleicht gehen die Bürger aber gar nicht auf die Straße, wenn das städtische Orchester verkleinert oder abgewickelt wird, wenn Sparten des Theaters schließen, wenn fusioniert oder gar endgültig geschlossen wird? Die Statistiken des Bühnenvereins verraten auch anderes als Kosten und Besucherzahlen. Da wurden beispielsweise in der Spielzeit 1995/96 511 Neuinszenierungen im deutschen, österreichischen und Schweizer Musiktheater herausgebracht: 53 Werke von Mozart, 52 von Verdi, je 28 von Puccini und Wagner, 23 von Richard Strauss und 22 von Johann Strauß. Offenbach bringt es auf 18, Rossini auf 17 Werke; alle Kompositionen ab der zweiten Wiener Schule rangieren unter ferner liefen. Wird auch das Musical in die Betrachtung einbezogen, dann ergibt sich in der darauffolgenden Spielzeit 1996/97, diesmal nach Besucherzahlen gereiht, folgendes: Spitzenreiter war Schönbergs Musical „Les Misérables“ mit 751.700 Besuchern, gefolgt von Webbers „Phantom der Oper“ (745.000), Schönbergs „Miss Saigon“ (732.000), Webbers „Starlight Express“ (691.300), Webbers „Cats“ (454.200) und Jacobs/Caseys „Grease“ (438.481). Erst auf Platz sieben kommt Mozarts „Zauberflöte“ (409.682). Dann folgt wieder ein Musical vor „Hänsel und Gretel“ und „Figaro“. Die Liste der häufigst gespielten Konzertwerke deckt sich mit den Statistiken des Musiktheaters: Vier Werke von Mozart, drei von Brahms, sechs von Beethoven, je zwei von Tschaikowsky und Mendelssohn-Bartholdy liegen auf den ersten 20 Plätzen; Strawinsky, Richard Strauss und Debussy mit je einem Werk muten in diesem Zusammenhang geradezu zeitnah an. Ein Blick auf die Verkaufszahlen des Tonträger-Handels bestätigt das schon lange bekannte Bild: Im Jahr 1995 wurden 192,1 Millionen Tonträger (ohne Musikvideos) verkauft; davon nur rund 17 Millionen mit klassischem oder E-Musik-Repertoire, davon wiederum knapp drei Prozent mit sogenannten „zeitgenössischen“ Werken. Daß im klassischen Repertoire die „feel good music“ mit „Last Night of the Proms“, mit Nigel Kennedy, den drei Tenören oder Vanessa Mae die höchsten Verkaufszahlen erreicht, rundet das Bild. Das eine entspricht – als gelte es, den Wettlauf sich selbst verwirklichender kulturpessimistischer Prophezeiung zu gewinnen – immer dem anderen. Zeitgenössische Musik kommt nicht an: Also werden von Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Hamburgischen Staatsoper im ersten Durchgang viel zu wenige Vorstellungen angesetzt. Olivier Messiaens großartiger „Saint Francois d`Assise“ weist ermüdende Repetitionen und Längen auf: also spielt die Oper Leipzig das Werk ungekürzt. Kunst, Literatur, Musik, Theater drohen die Aufgabe zu verlieren, daß sich die Gesellschaft dort über ihre Grundwerte auseinandersetzen kann: Also werden sie als (bildungs-)bürgerliche Privilegien diffamiert, wird das Handwerkszeug, sich ihnen überhaupt nähern zu können, der Jugend verweigert. Die musische Ausbildung an den allgemeinbildenden Schulen, die diese Klassifizierung schon nicht mehr verdienen, wird rigoros eingeschränkt; Musik- und Kunstschulen werden – in einigen Bundesländern – finanziell derart kurz gehalten, daß die Nutzergebühren für einen Teil der Eltern unerschwinglich werden. Sorgen um die großen Opernhäuser und die Spitzenorchester wären derzeit unangebracht: Standortpolitik und Repräsentation sind davor. Sorgen aber bereiten ihre Einbindung in den Cross-over-Kommerz und ihre beginnende Abhängigkeit von Sponsoren. Dem Eindruck sich zu erwehren, es gäbe für die großen Häuser ein zentrales künstlerisches Betriebsbüro namens Columbia Artists Management Inc. (CAMI) mit Sitz in New York, fällt zunehmend schwerer. Und zu dem „Ereignis“, daß Zubin Mehta, zwingender persönlicher Verhinderung wegen, bei der Wiederholung des ersten Akademiekonzertes des Bayerischen Staatsorchesters im November 1998 den darauf spezialisierten Börsianer Gilbert Kaplan Gustav Mahlers Auferstehungs-Symphonie dirigieren ließ, sei kommentierend nur ein Mitglied des Staatsorchesters zitiert: „Mir ham uns durch sein Schlagen nicht stören lassen.“ Die kleineren und mittleren Kulturorchester und (Musik-)Theater können weder bei der vorherrschenden Interpretations- und Reproduktionskultur mithalten, noch genießen sie angesichts allmählich schwindender Akzeptanz standortpolitischen Schutz. Sie können sich bemühen, mit intensiviertem Marketing ihre Position an ihrem Standort zu festigen, wie beispielhaft das Nationaltheater Mannheim durch Verbreiterung zum Kultur- und Kommunikationszentrum es tut, oder sie können versuchen, durch ein vorgeblich populäres und volkstümliches Angebot neue Besuchergruppen zu erschließen. Letzteres kann aber zur Spirale nach unten werden: „Die Zauberflöte“ ist nicht spielzeitfüllend und die Imitation des Musical-Erfolges „Die Rocky Horror Show“ von O’Brian kann leicht zur provinziellen Horror Show werden, die den städtischen Kultur- oder Finanzdezernenten veranlaßt, sich lieber das Original anzusehen. Ohne Rückbesinnung darauf, daß Kultur- und Bildungspolitik eng verzahnt sind, daß Musik nicht individueller Gefühligkeit, sondern geistiger Auseinandersetzung verpflichtet ist und daß sich der Kulturstaat, sei er in den Länder-Verfassungen als Gebot verankert oder nicht, auch in den Kultur- und Theateretats manifestiert, wird die Vision eines drohenden Bebens sich nicht verscheuchen lassen.

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