Hauptrubrik
Banner Full-Size

Polyphone Kunst

Publikationsdatum
Body
Corsica/Sardinia: Canta u Populu Corsu & A Filetta u.a.; World Network 58.393, über 2001 i musvrini: Terra Corsa Biber Records 66641, über In - Akustik Trinovox: Mediterranea JARO 4203 - 2 Hamlet Gonashvili: Traditionelle Georgische Musik JAR04191 Huun-Huur-Tu: The Orphan’s Lament JARO 4204-2 Vertikal Töne zu weben, ist kein Privileg europäischer Mehrstimmigkeit. Diese Kunst ist älter. Geradezu archaischen Ursprungs ist sie in einigen kulturellen Nischen des Globus. Ob in mündlich überlieferten oder adaptierten Formen: gegenwärtig gibt es Tendenzen, das Interesse auf polyphone Vokalkunst zu lenken. Eine kleine Auslese neuer CD-Produktionen soll Beispiele aus mediterranen und asiatischen Gebieten vorstellen. Inseln haben eine gewisse Resistenz bei der Bewahrung autochthoner Phänomene. So konnten auf Korsika Relikte der Hirtenkultur nicht nivelliert werden. Dazu gehören Chöre, die a capella dreistimmig die „paghjella“ zelebrieren, das sind sakrale Hymnen, aber auch naturpoetische Parlandi. Diese Lieder sind wie Gebirge, langsam steigt man zum Gipfel, um von dort die Zerklüftungen und Abgründe zu spüren: Vertikal bauen die Stimmen eine statische Musik, deren Gestus imposant und stolz ist. „Donnisulana“, ein Frauenensemble, macht der eigentlich patriarchalen Inselwelt mit ebenbürtiger Intensität Konkurrenz, wodurch die „paghjella“ als kultureller Faktor noch hervorgehoben wird. Hörproben beider Varianten sind auf der bestens kompilierten Anthologie „Corsica/Sardinia“ zu finden. Auch die fünf Männer der Gruppe „I Muvrini“ sind in diese Polyphonie (korsisch: pulifunia) hineingewachsen. In Frankreich verkaufen sich ihre Platten zu Hunderttausenden. Ihre neueste Produktion „Terra Corsa“ nimmt allerdings Abschied von der Tradition. Mit um Gitarre, Bandoneon, Tabla, Oboe und anderem erweitertem Instrumentarium macht „I Muvrini“ Konzessionen an den Erfolg, Konzessionen, die das Konzept zum Soft-Folk-Rock zurechtstutzen. Solo mit Begleitung in der Manier nebliger Discosounds sind das Ergebnis. Lediglich im Stück „O Salutaris“ kommen die Stimmen allein zum Quintett zusammen und zeigen, welche Wucht in ihnen steckt. Von zwei weiteren Aufnahmen abgesehen, ist die Musik dieser CD kommerziell. Während die „pulifunia“ andächtig – monolithisch – ist, bietet Sardinien eine profane Mehrstimmigkeit, die beweglicher, an Tanz orientiert ist. Ein Vorsänger intoniert einen Text, und diese Oberstimme wird von drei weiteren tiefen Männerstimmen mit lautmalerischen Silben gestützt. Diese geben dem Solisten ein rhythmisches Fundament, das manchmal ulkig knarrend wie ein Blasebalg klingt. So entstehen Untertoneffekte, wodurch die Harmonik fülliger wird, insbesondere wenn noch die von Luigi Lai äußerst virtuos gespielte Launeddas hinzukommt. Zu hören wiederum auf dem Insel-Doppelporträt von Network. Nicht von ungefähr hat das neue Album des Vokaltrios „Trinovox“ den Titel „Mediterranea“, knüpfen die drei Florentiner doch auch an sardischer Polyphonie an. Allerdings haben sie die Baßsilben in „Lu Tempu“ auf Tupfer reduziert und die Ornamentik im Solopart mehr beachtet. Ihr Konzept, in das Impulse aus der Folklore adaptiert sind, heißt Avantgarde-Pop, womit gemeint ist, daß die Cantilene oder das Belcanto eine zentrale Funktion hat, das Arrangement hingegen mit overdubbing und percussion die ziselierte Vokalartistik technisch erweitert. Die Mitglieder von „Trinovox“ ballen ihre Kapazitäten als Komponisten, Tontechniker und Musikwissenschaftler so zu einem unverwechselbaren Sound. Ihr Programm zeichnet sich durch die Auswahl anspruchsvoller poetischer Texte in zwölf (!) Originalsprachen und einem untrüglichen Sinn für deren Balance zum Niveau der Musik aus. Ohne kommerzielle Verflachungen kann man mit „Mediterranea“ eine betörende ästhetische Rundreise zu den Temperamenten und Sinnen dieser Region machen. Georgien ist zwar keine Insel, hat aber stets auf die eigene Identität gepocht. Am Rande des Kaukasus hat sich seit über 1.000 Jahren eine spezielle Polyphonie behauptet, die in Europa noch wenig bekannt ist. Der Sänger Hamlet Gonashvili (die „Stimme Georgiens“), der 1985 starb, hat eine CD mit typischer Sakralmusik hinterlassen. Uralte Choräle singt er mit klarem Tenor, der ein sanftes Timbre hat, sozusagen vor dem Begleitchor schwebend. Der Chor verleiht mit übermäßigen Akkorden oder gar weiten, aber pastellfarbenen Dissonanzen diesen ruhigen Melodien einen Resonanzkörper oder gar eine sphärische Aura. Versunkenheit in genau dosiertem Pathos macht diese Musik zu einem meditativen Erlebnis. Einer Sensation glichen die Auftritte von Vokalisten aus dem abgelegenen Tuva (Südsibirien) bei europäischen Festivals wie der Harmoniale. Ihr Kehlkopfgesang erschütterte das vermeintlich solide Wissen um das natürliche menschliche Stimmpotential. Was bei sardischen Chören von drei Männern geleistet wird, nämlich einen Sänger durch klangliche Fülle zu stützen, vollbringen die Tuviner allein, indem sie auf originäre Weise mindestens zwei Töne zugleich singen können. Diese eigentlich solistische Aufführungspraxis hat “Huun-Huur-Tu“ zu einem Konzept für Ensemble kultiviert. Dabei haben die vier Männer auf der CD „The Orphan’s Lament“ diverse Liedtypen zu einem Programm gestaltet, das durch die Vielfalt der Artikulation besticht: so sind Reminiszenzen an tiefem tibetischen Tempelgesang, chinesische Pentatonik, Tänze und Elegien mit und ohne Begleitung auf Originalinstrumenten zu hören. Exzeptionell sind einige Aufnahmen, die an die sardische Polyphonie erinnern, indem sie konventionellen und Kehlkopfgesang verbinden. Auch Tuva hat eine weltzugewandte Musik, die in ihrer Lebhaftigkeit faszinierende Hörerfahrungen erschließt. Polyphone Vokalkunst erscheint in dieser Auslese nur im punktuellen Zugriff. Bei allen Divergenzen kann festgestellt werden, daß in Nischen, Stimmtechniken nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern universale Manifestationen kultureller Identität sind.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!