Das zweite "Tonlagen"-Festival der zeitgenössischen Musik in Dresden-Hellerau ist am vergangenen Wochenende zu Ende gegangen. 2009 löste Dieter Jaenicke in der Intendanz des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau Udo Zimmermann ab. Das jährliche Festival der zeitgenössischen Musik - nunmehr im 24. Jahrgang - blieb im Programm und wurde um den Titel "Tonlagen" ergänzt. Doch die "Tage der zeitgenössischen Musik" sind Geschichte:
Rockmusik (Wareham und Philips in der wenig künstlerischen Annäherung an Andy Warhols "Screen Tests") hat damit ebensowenig zu tun wie Indie-Pop vermischt mit litauischer Folklore (Fusedmarc mit dem Gesangsensemble Trys Keturiose). Angreifbar wird der Intendant allerdings, wenn er Musik von Michael Nyman ebenfalls in diesen bunten Potpourrikasten einsortiert und gleichzeitig in einem Interview von der zeitgenössischen Musik sagt, sie sei "sehr schnell in Gefahr, ein arrogantes Verhältnis zu anderen Musikformen und übrigens auch ihrem Publikum gegenüber zu haben".
Rettung wurde im Festival etwa durch die Auseinandersetzung mit der traditionellen Musik anderer Länder angeboten, auch oft vorschnell als "Weltmusik" tituliert. Doch zeitgenössische Musik war das Orchester-Arrangement der anatolischen Melodien des deutsch-türkischen Komponisten Mark Sinan eben auch nicht. Vielleicht war dieser eher vorsichtig dokumentarische Ansatz aber noch der beste, denn die Multi-Kulti-Welle ist in den vergangenen zwanzig Jahren in oft heikler Weise durch die zeitgenössische Musik geschwappt. Den guten Eindruck des Projektes der Dresdner Sinfoniker (Sendung am 1.11. bei DeutschlandRadio Kultur) konnte auch ein Videoteam nicht behindern, das die Filmaufnahmen aus der Türkei hemmungslos zu toller Kunst zerschnipselte.
Damit bei den "Tonlagen" ansatzweise der Haptus des guten alten Neue-Musik-Festivals erhalten blieb, wurden einige herausragende Ensembles der Neuen Musik eingeladen: Ascolta, Resonanz, Courage, wobei nur die Hamburger einen nahezu klassischen Konzertabend mit sechs Kompositionen für Streicher vorstellten. Ein Symposium gab es ebenfalls wieder - Thema: "populär versus elitär" - der Titel wurde bereits in der Eröffnungsrede vom neuen Rektor der Dresdner Musikhochschule Ekkehard Klemm ausgehebelt und auch mehrere "Hellerau Talks"-Veranstaltungen konnten das in dieser Ästhetikdebatte gespiegelte Dilemma des Festivals nicht verhehlen: die Tonlagen sind weder populär noch elitär. Sie liegen genau dazwischen, auch wenn sie nicht "versus" sind.
Das ist zumindest problematisch, was die Vermarktung angeht - rote Fäden oder thematische Schwerpunkte sucht man bei diesem Festival vergeblich. Zudem ist das Dresdner Kulturvolk in seiner Ignoranz, aber auch ebenso plötzlich eintretender Euphorie unberechenbar und einzigartig. Was da also vielleicht als logische Maßnahme als "in-die-Breite-gehen" angekündigt wurde, hatte gedehnt auf 16 Tage zur Folge, dass zwar laut Veranstalter "in jedem Konzert ein anderes Publikum saß", aber eine zwingende Dramaturgie unterblieb. So ließen sich eben die Zuhörer eines horrend komplexen Avantcore-Abends mit Michael Wertmüller und dem Ensemble "Steamboat Switzerland" eben nicht auf das Dessert mit dem Popkünstler Felix Kubin ein, der leicht resigniert noch etwas wie Gemütlichkeit in der spärlichen Runde feststellen konnte.
Neben Einblicken in die Dresdner Electronica-Szene gab es Soundcollagen mit FM Einheit, Orgelkonzerte mit Werken so unterschiedlicher Künstler wie Ulf Langheinrich und Jörg Herchet und (für den Haken auf dem "populär"-Zettel) einen vergnüglichen Abend mit HK Gruber. Kurz vor Schluss gaben sich die Neuen Vocalsolisten Stuttgart noch mit Fedele und Sciarrino die Ehre, die Kinderkomponistenklasse Dresden präsentierte den Nachwuchs und zu Live-Musik und Sets von Barbara Panther, ByeTone und Sick Girls wurde am Ende gefeiert - zeitgenössisch?
Vom 1.-16. Oktober 2011 findet das nächste "Tonlagen"-Festival in Dresden statt.