Die Frage, wann Musik politisch wirksam wird und warum, spielt im musikjournalistischen Alltagsgeschäft eine marginale Rolle. Eine Ausnahme scheint das Jahr 2012 zu werden: Die Punk Band Pussy Riot bedrohte mit ihrem Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau das System Putin so ernsthaft, dass drei ihrer Mitglieder zu jeweils zwei Jahren Lagerhaft verurteilt wurden. In Bayreuth brach der russische Bassbariton Evgeni Nikitin mit einem überstochenen Hakenkreuz-Tattoo sämtliche Tabus über dem ehemals Braunen und heute wieder Grünen Hügel und fachte damit die fällige Debatte über die Rolle der Familie Wagner während der NS-Zeit wieder an.
Solche Ereignisse stehen in einer langen Tradition, in der Klänge Mauern, wenn nicht gerade biblisch zum Einstürzen, so doch zum Wanken gebracht haben. Die Anhänger des italienischen Risorgimento Ende des 19. Jahrhunderts verstanden nicht nur Giuseppe Verdis Namen als Freiheitsappell – V.E.R.D.I. wurde zu Vittorio Emanuele Re D’Italia umgedeutet –, sondern auch seine Musik. Die Swing-Heinis – unangepasste, langhaarige Jugendliche in den 30ern und 40ern – erkannten sich gegenseitig an der gepfiffenen Melodie des Swingtitels „Harlem“ von Eddie Carroll und gingen zum Teil für ihre Überzeugung ins KZ. Die Freiheitsbewegungen der Dritten Welt Ende des 20. Jahrhunderts schufen eine reiche Musikkultur, die sich nicht nur in vielfältiger Weise sowohl im Pop als auch in der E-Musik widerspiegelte, sondern den politischen Aufbruch der 68-Generation begleitete und beförderte.
Was geschieht mit dieser politisch virulenten Musik, wenn sie ausgedient hat? Wenn der aktuelle Anlass verjährt ist, der Kontext nicht mehr stimmt? Reinhard Schulz hat in seinem Text zu Eislers 100. Geburtstag 1998 ein Paradoxon beschrieben: „Dass wir aber Eislers musikalische Denkanstöße für so nötig erachten, ist – oh merkwürdige Dialektik – das Resultat seines Scheiterns. Denn er hat eine Musik und ein musikalisches Tun entworfen, das sich im Grunde dann selbst abschafft, wenn ihr Zweck erfüllt ist. Das Einheitsfrontlied wäre mit der Schaffung der Einheitsfront eingelöst worden und hätte ausgedient. Und die Lieder gegen die NSDAP gingen – zumindest von Eislers Intention her – mit dieser Partei ins Grab.“
Insofern müssen auch wir Musikjournalisten uns fragen, was für eine museale Kulinarik wir betreiben, wenn wir Heiner Goebbels zum 60. gratulieren (S. 2), Hanns Eisler zum 50. Todestag gedenken (S. 5), den 100. Geburtstag des Revoluzzers John Cage feiern (S. 3) und dann noch über die Salzburger Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns antimilitaristischer Oper „Die Soldaten“ berichten, die der lettische Regisseur Alvis Hermanis zwar den Pussy Riot-Sängerinnen gewidmet, aber pikanterweise von jeder politisch-relevanten Aussage befreit hatte. Wenn wir unseren Karikaturisten Rupert Hörbst jetzt bitten, seinen Figuren Pussy-Riot-Strickmützen aufzusetzen (S. 12), dann meinen wir das bei aller zynischen Vernunft durchaus solidarisch, auch auf die Gefahr hin, uns einzugliedern in die sich längst abzeichnende Pussy-Riot-PR-Kampagne.