Im Abriß von Händels Leben bei Burney/Eschenburg wird berichtet: „[Händel] blieb eine Zeitlang zu Florenz ... Von da gieng er nach Venedig, wo er im Jahre 1709 seine Agrippina aufführte, die, wie sein Lebensbeschreiber sagt, sieben und zwanzig Abende nach einander mit großem Beifall gespielt wurde.“ Die Uraufführung fand am 26. Dezember statt, dem Tag, der den venezianischen Karneval eröffnete. Dann erklang bis 1947 keine Händeloper mehr in Italien, und seitdem gab es neben konzertanten Aufführungen weniger als 50 Inszenierungen von 15 verschiedenen Opern, davon fünf in Venedig (Alcina, Orlando, Siroe und zwei Mal Agrippina).
Im Jahr 300 nach Händels grandiosem Opernerfolg, das mit dem Jubiläumsjahr anlässlich des 250. Todestages zusammenfällt, wurde im Teatro Malibran, das auf den Grundmauern der Uraufführungsstätte, des 1678 von der Grimani-Familie gegründeten Teatro Grimani di San Giovanni Grisostomo, steht, mit der gelungenen Neuinszenierung von Händels Agrippina, deren Text vermutlich Vincenzo Grimani, ein Gönner Händels, geschrieben hat, ein weiteres Jubiläum gefeiert, wenn auch nur mit fünf Vorstellungen. Die Produktion von 1983 brachte es immerhin auf 15 Vorstellungen, davon entfielen fünf auf das Händeljahr 1985.
Ausstattung, Regie und Bühnenbild sind Ergebnis der Zusammenarbeit mit der Facoltà di Design e Arti der Universität Venedig unter der Direktion von Walter Le Moli. Mit sparsamem Materialeinsatz, stilvoll gestalteten Requisiten und klassisch-schlichten, an römische Architektur erinnernden Bühnenelementen entstand eine frische, luftige und moderne Inszenierung, in der originelle Regieeinfälle die Charakterzeichnung von Figuren und Untermalung von Stimmungen unterstützten. Beispiele sind eine Schublade im hochlehnigen goldenen Designerthron, aus der Claudio hinter Agrippinas Rücken Haarbürste und Flasche hervorholt, oder der romantische Regen von Rosenblättern im zweiten Akt, als Ottone verzweifelt in einer seiner schönsten Arien klagt: „Voi che udite il mio lamento“.
Zwei bewegliche Wände erlauben die effektive Anpassung der Bühne an die Erfordernisse der Handlung, sie werden unter anderem zusammengeschoben, um zu untermalen, wie Ottone in die Enge getrieben wird. Insgesamt agieren die Figuren mit sehr überzeugenden und teilweise herausragenden schauspielerischen Leistungen, die Charaktere sind prägnant erfasst. Die Handlung ist eindeutig, transparent und humorvoll gestaltet, ohne sich in Spielereien des modernen Regietheaters zu verirren.
Kaiserin Agrippina (Ann Hallenberg), die die Fäden fest in der Hand hält, ist dabei, ihren Sohn Nerone (Florin Cezar Ouatu) aus erster Ehe auf den Thron zu bringen, als ihr tot geglaubter Gemahl Claudio (Lorenzo Regazzo) zurückkehrt und seinen Retter Ottone (Xavier Sabata) mit der Kaiserwürde belohnen will. Diese drei Männer begehren Poppea (Veronica Cangemi), während Agrippina von den beiden komischen Höflingen Pallante (Roberto Abbondanza) und Narciso (Milena Storti) umschmeichelt wird. Agrippina versucht Poppea zu benutzen, um Ottone bei Claudio zu diskreditieren, Poppea entwickelt sich aber zur ebenbürtigen Gegenspielerin, sie bekommt am Ende der Oper den sie liebenden Ottone, und Nerone als Marionette Agrippinas wird durch seine Mutter auf den Thron geschoben.
Im Mittelpunkt stehen die beiden starken Frauen, deren gegensätzliche Anlage in der Inszenierung deutlich akzentuiert wird: Der schwarzhaarigen Agrippina im dominant violetten Kleid mit rotem Schal wird kontrastierend eine zarte blonde grün gewandete Poppea entgegengesetzt. Beide Sängerinnen sind für ihre Partie gut gewählt und die Glanzlichter der Aufführung.
Ann Hallenberg beherrscht die Illustration mit allen Schattierungen der menschlichen Stimme genauso perfekt wie die Koloraturpassagen, während die kesse und kokette Veronica Cangemi stimmlich meisterhaft die verschiedenen direkt aufeinander folgenden Stimmungen zeichnet, die die Rolle ihr abverlangt. Mit Ouatu präsentiert sich ein viel versprechendes Nachwuchstalent, das mit zunehmender Erfahrung zu einem sehr guten Countertenor heranreifen wird. Er singt die Koloraturen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und hat gutes schauspielerisches und stimmliches Potential. Ugo Guagliardo zeigt sich bei seinem ersten Auftritt als großartiger tiefer Baß; Xavier Sabata ist als klagender Liebhaber sehr überzeugend, doch gelegentlich wünscht man sich differenziertere Dynamik und geschmeidigeren Vortrag; Lorenzo Regazzo erinnert in seiner Komik gelegentlich an Mr. Bean. Die Rolle des Dieners Lesbo ist mit Roberto Abbondanza besetzt, Milena Storti trat außerdem im Finale als Juno im Kostüm eines venizianischen Engels auf.
Als Geiger vom Dirigentenpult aus leitete Fabio Biondi das Orchestra del Teatro La Fenice mit einer das Orchester mitreißenden Spielfreude. Die Besetzung mit überwiegend modernen Instrumenten hat den Vorteil, dass die Trompeten sauber klingen, doch die modernen Violinen im zweiten Akt in der Arie des Claudio „Basta che sol tu chieda“ klingen beim g''' störend scharf. Das Ensemble wurde um zwei Traversflöten ergänzt (Händel schreibt Blockflöten vor), sowie um zwei Cembali und eine Laute in der Continuo-Gruppe. Die Oper wurde nicht in voller Länge gespielt, einige Arien und Rezitative fielen weg bzw. wurden gekürzt.
Während Ferrara im Februar eine italienische Partenope-Premiere erlebte und Mailand eine neue „Alcina“ zeigte, präsentierte Venedig die zweite von drei italienischen Agrippina-Inszenierungen des Händeljahres (im Januar war die Oper auch beim Festival MiTo zu sehen, sie wurde außerdem im November in Modena aufgeführt). Zwar war das Theater nicht ausverkauft, aber dennoch gut gefüllt, auch mit Gästen, die extra aus dem Ausland oder anderen Orten des Landes angereist waren, und die Zuschauer honorierten besonders gelungene Leistungen durchaus mit Bravo-Rufen und gebührendem Applaus. Diese Händel-Inszenierung ist die überzeugendste, die ich persönlich in diesem Jahr gesehen habe.