Nachlassverwalter Anton Schindler übergab Originalhandschriften des Komponisten der Berliner Bibliothek gegen eine Rente auf Lebenszeit – Er starb vor 150 Jahren. Walter Scharfenecker hat die Spur der Neunten von Ludwig van Beethoven durch die Jahrzehnte mit geradezu kriminalistischer Akribie verfolgt.
Musikwissenschaftler ziehen leicht indigniert die Augenbrauen nach oben, wenn sie sich mit Anton Schindler, dem Nachlassverwalter Ludwig van Beethovens (1772-1827), befassen müssen. Der als unseriös eingestufte Testamentsvollstrecker und erste Biograf des Musik-Titanen starb vor 150 Jahren, am 16. Januar 1864, in Bockenheim, einem Stadtteil von Frankfurt am Main. Sein Grab auf dem dortigen Friedhof ist längst eingeebnet. Gleichwohl hat es die Menschheit Schindler zu verdanken, dass er die Autographe des großen Meisters für die Nachwelt aufbewahrt hat, darunter die Originalhandschrift der 9. Sinfonie in d-Moll mit der „Ode an die Freude“ von Friedrich von Schiller, ein Werk, das traditionell in vielen Konzertsälen rund um den Globus am Neujahrstag erklingt.
Schindler, der als Musiker, Theaterdirektor und heute vergessener Komponist seinen Lebensunterhalt bestritt, war ein kleiner Gernegroß, der vorgab, über lange Zeit Beethovens engster Freund und Vertrauter gewesen zu sein. Als sein angeblicher Schüler maßte er sich darüber hinaus die Deutungshoheit über sein Werk an. Im September 2007 fand im Bonner Beethovenhaus ein Studienkolleg statt, das sich mit dieser Problematik befasste. Dabei zeigte sich, dass Schindlers Rolle als historischer Gewährsmann als höchst problematisch anzusehen sei. Schindler hätte zu Beethoven entgegen seiner eigenen Behauptungen nur etwas mehr als zwei Jahre einen wirklich engen Kontakt gehabt. Nach Beethovens Tod allerdings stilisierte er sich zum maßgebenden Bewahrer von Beethovens Erbe hoch und beanspruchte für sich sogar die Deutungshoheit über sein Werk. Dabei habe er nicht einmal vor Fälschungen in Beethovens Konversationsheften zurückgeschreckt. Diese Eingriffe hätten ausschließlich nur dem Ziel gedient, die eigene Person für die Beethoven-Biographik unentbehrlich zu machen und die völlig übertriebene Bedeutung zu unterstreichen, die er sich selbst zuwies.
Wie nachlässig und stümperhaft Schindler Beethovens Leben beleuchtete, bewies er 1840 mit der Veröffentlichung des bis dahin unbekannten Liebesbriefes Beethovens an eine „Unsterblich Geliebte“, eine mit letzter Sicherheit bis heute nicht identifizierte Frau, die offensichtlich verheiratet war. Vermutlich war es Josephine von Brunsvick, unglücklich verheiratet mit dem estnischen Baron Christoph von Stackelberg. Beethoven hatte den Brief am Montag, dem 4. Juli 1812, im Heilbad Teplitz geschrieben, wobei er aber sowohl auf die Jahres - als auch die Ortsangabe verzichtete. Mit kriminalistischem Spürsinn fanden dies dann Musikwissenschaftler heraus, die daraus jetzt die notwendigen Schlüsse ziehen konnten. Schindler hatte sie auf eine völlig falsche Spur gelenkt. Er verwies auf eine Frau, die mit Sicherheit nicht die „Unsterblich Geliebte“ von 1812 gewesen sein konnte: die junge Gräfin Julie Guicciardi. Dieser hatte Beethoven schon um 1800 Klavierunterricht erteilt und sich sofort in sie verliebt. 1803 heiratete die Gräfin einen Standesgenossen, danach tauchte sie in Beethovens Leben nicht mehr auf. Lange nach Beethovens Tod erklärte sie, gar nicht gewusst zu haben, dass ihr Klavierlehrer für sie in Liebe entflammt war. Sie sei auf jeden Fall nicht in diesen verliebt gewesen. Die Musikwelt verdankt dieser Bekanntschaft jedoch die „Mondscheinsonate“, prosaischer als Klaviersonate cis-Moll op. 27 Nr. 2 bekannt.
Manuskript als Rente
1846, 19 Jahre nach dem Tod Beethovens, überließ Schindler dem preußischen Staat, das heißt der Königlichen Bibliothek in Berlin, seinen Beethoven-Schatz. Im Gegenzug erhielt er bis zu seinem Tod eine Rente. So gelangte ein Großteil der Werke Beethovens in die Musikaliensammlung der heutigen Staatsbibiliothek Unter den Linden, die dann noch durch weitere großzügige Spenden anderer Mäzene, darunter Mitglieder der Familie Mendelssohn, ergänzt wurde. Von Beethovens 9. Sinfonie besaß Schindler allerdings nur die ersten drei Sätze des Autographs, einige Seiten hatte er zuvor Freunden geschenkt. Diese losen Blätter gehören heute zu den Beständen des Beethoven - Hauses in Bonn beziehungsweise der französischen Nationalbibliothek in Paris. Die Seiten des Finales mit der „Ode an die Freude“ war jedoch in den Besitz der Wiener Verlegerfamilie Artaria gelangt. Diese veräußerte den in fünf Faszikeln (Bündel) aufgeteilten letzten Satz 1901 der Bibliothek in Berlin.
Berlin und Beethovens Neunte bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Das fängt schon damit an, dass der Komponist seine letzte Sinfonie dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770 - 1840) widmete. Ende September 1826 übersandte er ihm eine mehr als 200 Seiten umfassende Partiturabschrift mit der Dedikation. Der Monarch ließ dem Meister zusammen mit einem Dankschreiben einen Brillantring übersenden; bei Beethoven kam aber nur ein einfacher Goldring mit einem rötlichen Stein von geringem Wert an. Ein Dieb hatte lange Finger gemacht. Der preußische Widmungsträger war allerdings Beethovens zweite Wahl. Ursprünglich hatte der Komponist die Sinfonie dem russischen Zaren Alexander I. zueignen wollen, doch der Herrscher aller Reussen starb schon 1825.
Uraufführung
Das Werk war am 7. Mai 1824 im Kärntnertortheater in Wien uraufgeführt worden. Die Weltpremiere des opus 125 war nicht nur eine Sternstunde der Menschheit, sondern für den bereits völlig ertaubten Beethoven die Krönung seines Lebenswerkes. Während des Schlusssatzes stand Beethoven mit dem Rücken zum Publikum und las die Worte der Sänger von ihrem Munde ab. Die Solisten waren die berühmtesten Sängerinnen und Sänger ihrer Zeit: die Sopranistin Henriette Sontag (1806-1854), die Altstin Caroline Unger (1803-1877), der Tenor Anton Haitzinger (1796-1869) und der Bassbariton Joseph Seipelt (1787-1847). Der Dirigent war Michael Umlauf (1781-1842). Das Kärtnertortheater wurde 1870 abgerissen, an seine Stelle trat 1876 das nicht minder berühmte Hotel Sacher.
Zwei Jahre nach der Uraufführung sollten auch die Berliner in den Hörgenuss des Werkes kommen. Zur Einführung erklang am 13. November 1826 im Jagorschen Saal Unter den Linden, heute steht dort das Appartement-Haus mit der Hausnummer 39, die Klavierfassung. Der Interpret: Felix Mendelssohn Bartholdy. Die „Vossische Zeitung“ schwärmte über Mendelssohns Klavierspiel: „... schon das war ein Genuß zu hören, wie dieser junge Künstler es fertig brachte... das ganze Orchester im beschränkten Rahmen der Tastatur mittels der Kraft und Fertigkeit der zehn Finger so zu übertragen, daß man ein durchaus deutliches Bild des Ganzen... erhielt.“ Am 27. November dirigierte Karl Möser die Berliner Erstaufführung der letzten Beethoven-Sinfonie im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, dem heutigen Konzerthaus. Möser war der Sohn einer Stabstrompeters, bei dem Wolfgang Amadeus Mozart während seines Berlin - Besuches im Frühjahr 1789 wohnte.
Trennung auf Zeit
1939 verkehrte sich der Satz aus der Neunten, „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“, ins Gegenteil: Am 1. September brach der Zweite Weltkrieg aus. Die immer größer werdende Bedrohung der deutschen Reichshauptstadt durch feindliche Bombenangriffe zwang die Leitung der Staatsbibliothek, ihre wertvollen Bestände auszulagern. 1941 verteilte man sie auf elf sicher erscheinende Klöster und Schlösser in Württemberg, Pommern, Schlesien, Sachsen, Bayern und Hessen. Um einen Totalverlust des Autographs der Neunten so gering wie möglich zu halten, teilte man sie in drei Partien auf und deponierte sie an unterschiedlichen Orten: Die von Schindler stammende Partitur, also die ersten drei Sätze, kam nach Schlesien, zunächst auf das Schloss Fürstenstein und dann in das Kloster Grüssau; sie befand sich also bei Kriegsende auf Gebiet unter polnischer Verwaltung. Sie galt im Westen lange Zeit als verschollen, lagerte aber seit 1946 wie ein geheimer Staatsschatz in der Jagellonen - Universität in Krakau. Die Finale-Faszikel I-III fanden im pommerschen Altmarrin vorläufigen Schutz, wurden dann aber nach Schönebeck an der Elbe ausgelagert. 1946 kehrten sie in die Staatsbibliothek Unter den Linden zurück, die aber jetzt unter kommunistischer Herrschaft stand. Die Faszikel IV und V schließlich überstanden den Krieg im Kloster Beuron im oberen Donautal bei Sigmaringen. Sie blieben zunächst für 20 Jahre in der Universitätsstadt Tübingen, um dann endlich wieder nach Berlin zurückzukehren, jetzt aber in den Westteil der Stadt, wo sie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in ihre Obhut nahm.
32 Jahre nach Kriegsende lüftete der polnische KP-Chef Edward Gierek das Geheimnis der vemeintlich für immer verloren gegangenen Teile des Autographs. Aus Anlass der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages zwischen der DDR und Polen übergab er am 28. Mai 1977 in Ost-Berlin SED-Generalsekretär Erich Honecker die fehlenden Originalteile der Neunten aus dem Schindler - Besitz. Bei dem feierlichen Akt im Gebäude des SED-Zentralkomitees, dem heutigen Auswärtigen Amt, tauchten nach Berichten der DDR-Presse noch weitere vermisste Originalpartituren überraschend aus dem Krakauer Versteck auf: Beethovens 3. Klavierkonzert, Johann Sebastian Bachs Konzert c-Moll für zwei Klaviere und die Sonetta III A-Dur für Flöte und Klavier sowie die Originalhandschriften von Mozarts „Zauberflöte“, seiner Messe in c-Moll und der „Jupitersinfonie“.
Beethovens Autograph seiner letzten Sinfonie befand sich mit Ausnahme der wenigen Blätter in Paris und Bonn wohl wieder in Berlin, aber bis zum Fall der Mauer getrennt in einer geteilten Stadt. Erst nach der friedlichen Wiedervereinigung der Stadt wurde das kostbare Dokument wieder vereint. Die UNESCO teilte Ende 2001 der Staatsbibliothek mit, die Sinfonie in das Verzeichnis „Memory of the World - (das Gedächtnis der Welt)“ aufzunehmen. Aus diesem Anlass stellte die Bibliothek Unter den Linden am 7. und 8. Dezember 2001 diesen wertvollen Schatz und das Widmungsexemplar an den König, die ansonsten in einem Tresor schlummern, im Lessingsaal aus. Die offizielle Aufnahme in die Liste erfolgte im Rahmen eines Festaktes am 12. Januar 2003 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Die Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, Verena Metze-Mangold, überreichte dem damaligen Generaldirektor der Bibliothek, Graham Jefcoate, die Urkunde. Anschließend spielte die Philharmonie der Nationen unter Justus Frantz die berühmte Sinfonie. Die Musiker kamen aus 40 Ländern. Neben dem Kaunas Staatschor aus Litauen sangen Cheryl Studer (Sopran) und Christian Elsner (Tenor) den Finalsatz mit der „Ode an die Freude“.
In einer Mitteilung der Staatsbibiothek aus Anlass dieses Festaktes hieß es dazu treffend: „Quer durch die 9. Sinfonie verlief die Berliner Mauer als Monument des Kalten Krieges. Ein Bild von wahrhaft beklemmender Symbolhaftigkeit: Der Schnitt ging mitten durch die Doppelfuge des Schlußsatzes, jenen Höhepunkt, auf dem Beethoven die beiden musikalischen und ideellen Hauptthemen – Freude und weltumspannte Brüderlichkeit unter den Menschen – in kontrapunktischer Verflechtung gleichzeitig erklingen läßt.“