Positiv formuliert – die nächsten Wochen und Monate werden spannend. Während sich die Verantwortlichen in Kultureinrichtungen noch wundern, wo das vorpandemische Publikum abgeblieben sein mag, steht auf einmal die Frage im Raum, ob sie dieses dann – wenn sie denn im Herbst überhaupt öffnen – im Winter in unbeheizten Theatern und Sälen willkommen heißen müssen. Während der neue Medienstaatsvertrag gerade erst in trockenen Tüchern ist und bald unterzeichnet werden soll – wobei das Problem der Finanzierung noch gar nicht berücksichtigt ist –, werden angesichts der Vorgänge beim Rundfunk Berlin-Brandenburg wieder einmal Rufe nach grundsätzlichen Reformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks laut. Und dann sind da ja noch ein russischer Angriffskrieg in Europa und ein Virus, das vor lauter Vorfreude auf das Münchner Oktoberfest schon mal ein zünftiges Prosit der Mutantengemütlichkeit anstimmt.
Bräuchten wir da nicht alle eine Musik, die uns mal für ein paar Stunden einen tröstenden Rückzugsort beschert? Einen klingenden Kokon aus vertrauten Weisen, der uns beschützt, um uns dann gestärkt, erneuert und verändert wieder in die raue Wirklichkeit zu entlassen? So verständlich diese Sehnsucht nach einem verlässlichen Kanon bewährter Meisterwerke sein mag, so klar ist auch, dass im Opern- und Konzertrepertoire – neben der Pflege eines zweifellos wunderbaren Erbes westlicher Prägung – Platz für Erneuerung sein muss. Und dass dabei auch bisher vernachlässigte Musiken und Interpret*innen eine Rolle spielen müssen, sollte eigentlich selbstverständlich sein.
In diesem Sinne beziehen, beginnend im Leitartikel nebenan, die Stipendiat*innen der ersten nmzAkademie für Musikjournalismus auf den Seiten 16 bis 19 Stellung zu Diversität, Dekolonisierung, Kultureller Aneignung und anderen drängenden Themen. Diese sind mit Verspätung nun auch im deutschsprachigen Musikbetrieb voll angekommen und treiben auch unsere bewährten Cluster-Autoren um (Seite 7). Dazu passen aus anderer Perspektive außerdem die grundsätzlichen Gedanken Claus-Steffen Mahnkopfs (Seite 3) zu der Frage, welche Rolle die Gegenwartsmusik im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs spielt, oder besser gesagt: nicht spielt. Spannende Lektüre wünscht
Juan Martin Koch
THEMA DIVERSITÄT
Befreit euch, dekolonisiert euch
Westliche Kunstmusiktradition und europäische Kolonialgeschichte
„Wir wollen ein Festival für alle sein“
Luzern-Intendant Michael Haefliger über Dekolonisierung und gerechtere Spielpläne
Wann sind wir angekommen?
Der weite Weg zur Diversität als Selbstverständnis im Klassikbetrieb
Muss Toleranz neu erfunden werden?
Ein Kommentar von Vincent Schneider
Moralin süß-sauer?
Ein Kommentar zur kulturellen Aneignung