„Conducting is DJing“ sagt Esa Pekka Salonen – komme es doch hier wie dort auf das Mischen von Klangfarben an. Spätabends, nach einer überwältigenden Aufführung von Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ durch das britische Philharmonia Orchestra, verarbeitet ein DJ einzelne Partikel aus dieser Musik in seinem Set. Und die Besucher der multimedialen Installation „Re-rite – Du bist das Orchester!“ können die Lautstärke der einzelnen Instrumentalstimmen an einem Mischpult selbst kontrollieren, und damit – zumindest symbolisch – die Geschicke eines großen Sinfonieorchesters lenken.
Salonen weiß, Musik in Vollendung zu leben und aufzuführen, aber auch, mit einem nicht minder aufregenden Rahmen drum herum neues junges Publikum anzulocken. Also sollte sich ein großer Abend in Dortmund, wo Salonen als Residenzkünstler waltet, über mehrere Stationen logisch weiterentwickeln: Zunächst zeigt sich das Philharmonia Orchestra unter Salonens Dirigat in traumwandlerischer Bestform. Theatralisch postieren sich die Trompeter auf der Orgelempore zum grellen Fanfarenmotiv aus Janaceks Sinfonietta – der Rest des riesigen Orchesterapparates antwortet mit unendlich tiefem, druckvollen Klang.
Salonen weiß um die Dosierung sämtlicher Nuancen, denn er kennt die Gegebenheiten in diesem Konzertsaal genau. Der gebürtige Finne, der seit Jahren in London lebt, ist hierzulande weniger als Komponist, sondern meist nur als Dirigent bekannt. Dieses Bild korrigiert sich hier eindrücklich: in seinem 2009 uraufgeführten Violinkonzert, diesmal gespielt durch die moldawische Geigerin Patricia Kopatchinskaja. Da lebt eine junge wilde Virtuosität gepaart mit spannender Exzentrik, nicht nur in den extremen Arpeggien und wilden Temperamentsstürmen, die in diesem Werk nur zu gern auf cineastische Flächenklänge des Orchesters treffen.
Salonen verströmt bei seinem manchmal regelrecht tänzerischen Dirigatalledem eine lässige, fast jungenhafte Ausstrahlung. Direkt und impulsiv sind seine Gesten – das produziert ungefiltert jene extreme Emphase, die sich in der nun folgenden Interpretation von Strawinskys Sacre bis zum Bersten auftürmt. Und dabei – auch auf höchstem Energielevel, bei allen wahnwitzigen Rhythmuswechseln, sich überlagernden polytonalen Schichten und harschen Kontrastwirkungen – frappierend analytisch bleibt.
Noch völlig paralysiert vom gewaltigen Hörerlebnis führt der Weg danach ins „Dortmunder U“, einem klotzigen Gebäudekomplex, der einst die Union-Brauerei beheimatete. Das vergangene Kulturhauptstadtjahr lieferte die Initialzündung für ein Kreativzentrum an diesem Ort. Jetzt führen Rolltreppen hinauf in die schwarz ausgekleideten Ausstellungsräume der audiovisuellen Ausstellung „Re-Rite“, die weltweit gezeigt werden soll und wo Strawinskys „Sacre“ in der Endlosschleife läuft.
Das Labyrinth der Räumlichkeiten scheint der Komplexität dieser hypnotischen Musik unmittelbar entsprechen zu wollen. Aber jetzt sind die Zuhörer mittendrin. Große Videoleinwände führen das Spiel einzelner Gruppen des Orchesters in Nahaufnahme vor. Teilnehmen kann man daran, wie sich etwa eine Klarinettistin mit äußerster körperlicher Anspannung auf ihren nächsten Einsatz vorbereitet. Eine Cellistin lässt all ihre Kraft und Aggression raus, irgendwo inmitten eines der zahllosen tosenden Crescendi dieses einst so skandalträchtigen, heute als Klassiker gehandelten Stückes. Denn jeder muss hier alles herauslassen, damit alles auf der Bühne seine archaische, explosive Wucht entfaltet.
Solche Bilder machen jene Adrenalinstöße miterlebbar, welche die Musik in den Ausführenden freisetzt. Und die Esa-Pekka Salonen nach eigenem Bekunden so gerne mit seinem Publikum teilen möchte und deshalb diese Ausstellung initiiert hat. Denn die bringt dem Publikum die Leistung der Einzelindividuen näher. Notenständer ermöglichen das Mitlesen, was gleichermaßen aufschlussreich wie auch ästhetisch faszinierend sein kann.
Und es kann auch dem Dirigenten direkt nachgeeifert werden. Das entlockt bei so manchem Ausstellungsbesucher spontane komödiantische Einlagen, wenn Spaßvögel auch mal den finnischen Maestro zu parodieren wissen. Zusätzlich gibt es Workshops für Familien, Jugendliche und Grundschüler. Zu bestimmten Zeiten dürfen sogar zu offenen Mitspielaktionen eigene Instrumente mitgebracht werden, um sich mal in der Umgebung eines Weltklasse-Orchesters zu erproben. Benedikt Stampa, Intendant des Konzerthauses freut sich über den regen Besucherandrang, der von unerwartet großem öffentlichen Interesse zeugt: „Bislang sind circa 4.000 Besucher ins Dortmunder U gekommen. Das weckt die Hoffnung auf viel neues, jüngeres Konzertpublikum.“
Soweit der pädagogische Teil dieses von Esa-Pekka Salon konzipierten „Gesamtkunstwerks Orchester“. Im obersten Geschoss des Kreativzentrums bildet ebenfalls die von Salonen und dem britischen Philharmonia Orchestra aufgeführte Musik die Keimzelle eines reichen Ganzen – diesmal in der ästhetischen Dekonstruktion durch Sampling und DJ-Kultur. Auf dem Dancefloor steht ein Dirigentenpult. Wie die Fagottmelodie den riesigen Wachstumsprozess des „Sacre du Printemps“ einleitet, so dirigiert Salonen bei der jetzigen Latenight-Aufführung noch einmal das Thema der Janacek-Sinfonietta. Aber schon nach wenigen Minuten können die Blechbläser ihre Instrumente einpacken, denn die Sampling-Software unter den Händen des Londoner DJs Gabriel Prokofiev nimmt ihre Arbeit auf.
Prokofiev (Enkel des russischen Komponisten) remixed gerne Partikel aus Werken der Konzertliteratur und hat bereits Stücke für solistisch eingesetzten Vinylplattenspieler und Orchester komponiert. Hinzu kommen Videoanimationen, die immer wieder auf kaleidoskopische Brechungen von Filmsequenzen aus Orchester-Aufführungen hinauslaufen. Zitate, Themen und Motive aus Janaceks Sinfonietta, dem Sacre und anderen von Salonen in Dortmund aufgeführten Werken blitzen in Prokofievs Laptop-Improvisation unberechenbar auf, leben losgelöst vom ursprünglichen Zusammenhang und gehen geschmeidig in einem verquer polternden und knarzenden Kosmos aus Clicks and Cuts und kantigen Beats. Da ist jetzt ganz viel Londoner Underground im Spiel und dennoch bleibt die soeben im Konzerthaus Dortmund eingesogene Hochkultur in all ihren Spurenelementen präsent.
Salonen, der sich mit einem Bier unters Publikum gemischt hat, freut sich über eigene neue Hörerfahrungen in diesem Moment: „Ich beginne gerade, mich stärker als bislang für elektronische Clubsounds zu interessieren.“