Wie bei jedem anständigen „Symposium“ blieben die gestellten Fragen ohne Antwort. Woher sollen auch ausgerechnet Komponisten wissen, was adornitisch kontaminierte Veranstalter so umtreibt: „Wo ist vorn? Welchen Weg beschreiten wir? Welche Perspektive hat unsere Gesellschaft?“
Fragen aus einem anderen Jahrhundert als der Künstler noch Projektionsfläche und Guru war (oder sein sollte). Und doch: Nach einigem Hin- und Herrudern, nach intensivem Beschnuppern auch mit dem Publikum, gab’s zur zweiten Ausgabe des Essener now!-Festival Neue Musik immerhin so etwas wie eine lokale „Perspektive“.
„Wollt Ihr mehr davon? Mehr Gespräche über neue Musik?!“ Günter Steinke vom Festival-Mitveranstalter Folkwang Hochschule der Künste hatte die Stimmung ganz richtig erfasst und entschlossen die Gretchenfrage gestellt. Ja, durchaus! kam es zurück. Nur, bitte nicht das übliche inkompetente Vermittlungsblabla! – Was beides, soviel war zu spüren, sehr ernst gemeint war. Selbst ein am Ende auf gut und gern zwei Zeitstunden gestrecktes Komponisten-„Symposium“ wurde ohne Murren und Scharren angenommen. Immer noch staunte Moderator Gerhard R. Koch über all die Fragen und Nachfragen. Insofern war dies zunächst einmal die wichtigste Meldung des Tages: Das Bedürfnis nach Unterrichtetwerden in Sachen zeitgenössische Tonkunst ist da.
Rituale
Nur möge es, bitteschön, der Künstler selbst befriedigen in die Wege leiten. Authentisch. Frei händig. Unzensiert. Und, ganz wie es der Festival-Titel verspricht, „now!“. Hier und jetzt möge herauskommen, was ihn (auffällig häufig fiel dieses Wort) „bewegt“. Dass sich der RWE Pavillon der Essener Philharmonie an diesem trübnassen Sonntagnachmittag aber so gut füllte, gleichmäßig besetzt mit neugierigen Fachleuten und interessierten Laien, dies hatte zunächst etwas mit der Prominenz des Podiums zu tun. Und seiner Eloquenz. Und ferner auch mit dem glücklichen Kunstgriff des Veranstalters, die beim Festival gespielten Komponisten gleich fürs Podium zu verpflichten. So also kamen sie zusammen: der junge, noch etwas unsicher (und auch unklar) wirkende Lars Petter Hagen sowie die Herren Georg Friedrich Haas, Brian Ferneyhough und Helmut Lachenmann.
Mehr oder minder hatten alle vier dann zunächst das Problem, sich gewisser scheinbar unausweichlicher Rituale solcherart Podien zu erwehren. Nein, so Haas, das Denken in Materialkategorien, halte er für „einengend“. Nein, so Lachenmann, „Fragmente – Stille, An Diotima“, das (am Morgen von den Ardittis gespielte) Nono-Streichquartett sei keine „Kehre“, sondern eine „Öffnung“. Nein, so Ferneyhough, die Frage, wofür er „eigentlich“ komponiere halte er mit Verlaub für „terroristisch“. Da war die von Moderator Koch favorisierte Idee eines neu aufzulegenden Interviewbuch-Klassikers gleich wieder vom Tisch. So landete man denn nach den großen Beschwörungsgesten „Material“ und „Wofür?“ notgedrungen beim „Politischen“. Aber auch hier hagelte es Absagen. „Ich bezweifle“, so noch einmal ein wunderbar resistenter Haas, „dass es politische Musik gibt, dass es sie je gegeben hat.“
Geist
Wäre da nicht Helmut Lachenmann auf seine Weise beigesprungen, die Veranstaltung hätte ganz sicher viel von ihrem unbestreitbaren Spirit, ihrem Anregungswert eingebüßt. Sinnfälliger, überzeugender nämlich als Lachenmann dies gelingt, lässt sich eine solche Frage wohl kaum angehen. Was auch mit einem künstlerischen Selbstverständnis zu tun hat, das dabei ist (noch so ein Symposiums-Mitbringsel), seine Mehrheitsfähigkeit zu verlieren. Was nämlich für einen Norweger wie Lars Petter Hagen oder einen Engländer wie Brian Ferneyhough (trotz beträchtlicher Altersdifferenz) gleich weit weg ist und worin sich der Österreicher Georg Friedrich Haas (noch) nicht einrichten mag – dies scheint für Helmut Lachenmann das Einfachste, das Wichtigste.
Wobei dessen „Ich bin Komponist und Staatsbürger“ doch die Betonung auf der letzten Silbe hat, dem Citoyen. Man glaubte es ihm sofort, als Lachenmann betonte, wie sehr er noch unter dem Schock der jüngsten süddeutsch-berserkerhaften Orchesterfusion stehe, wie sehr es ihn schmerze, dass kein einziger Politiker heute mehr die „Unverrückbarkeit nicht-kommerzieller Ereignisse“ anerkenne und wie unwidersprochen „Kunst nur noch als die gute Stube des Entertainment“ gelte. Dabei sei es doch ganz klar: „Zur bürgerlichen Gesellschaft gehört die Pflege von Kunst“. Und was dabei die Tätigkeit des Komponisten angehe, so sei diese „politisch“ allein schon dann und deswegen, weil er sich noch immer besagter fünf Notenlinien bediene und eine Violinstimme darauf notiere. Das Komponierte als das Konnotierte – was der (trotz allem) gut gelaunte Komponist (einmal mehr unter Berufung auf Nono) an diesem Nachmittag nur etwas anders ausdrückte. Was ein Komponist in seine Partitur schreibe und was dann im Konzertsaal erklinge, sei „geistbegabt“, „geistgeprägt“. Eine politischere Wirkung könne er sich nicht vorstellen.