Das stete Auf und Ab der Gezeiten ist und bleibt geheimnisvoll, auch wenn dabei sichtbar zwei physikalische Kräfte wirken: Das Wasser der Meere durch die Anziehungskraft des Mondes und die Fliehkraft der Erdrotation bewegt. An der Nordsee ist dies sogar eine konstante Größe im Alltag. Die Menschen etwa in Ostfriesland leben mit den Gezeiten, sie kennen die Gefahren, aber auch die Besonderheiten ihrer einmaligen Landschaft.
Reihe 9 (#91) – Ebb’ und Flut
Doch nicht nur die Frage nach dem aktuellen Wasserstand entscheidet über den Rhythmus des Lebens. Wer an der Küste lebt oder dort einmal ein paar Tage verbracht hat, der kennt auch den Unterschied zwischen Flaute, Brise und Sturm. Vor allem für Segler und Seeleute ist die Angabe der Windgeschwindigkeit wie auch der Wellenhöhen elementar, will man sich nicht selbstverschuldet in Gefahr bringen. Denn im einen Fall kann einen die Strömung auf die Sandbank drücken, im anderen wird das Schiff zum Spielball der Wogen. Doch auch für Landratten ist es in Sachen Wasser schwieriger geworden: Still, medium oder prickelnd, groß, mittel oder klein? Mehr oder weniger Natrium? Da wird man unversehens zum Hobby-Hydrologen.
Watt, Wind und Wellen sind auf den Plakaten der ostfriesischen Gezeitenkonzerte zur Marke geworden – etwa wenn auf den signifikanten Plakaten ein junges Klaviertrio in Gummistiefeln lachend Cello- und Geigenkasten durch den Schlick trägt oder im Sand der Inseldünen musiziert. Tatsächlich hat das seit 2012 bestehende Festival die Region im Sturm erobert mit einer gelungenen Mischung aus herausragenden jungen Talenten und einem Who’s Who der internationalen Klassikszene. So auch in der St. Mauritiuskirche Reepsholt – trotz des seit 1474 nur noch fragmentarisch erhaltenen Turms, einem abgetragenen Gewölbe und einer Ausmalung aus dem 19. Jahrhundert ein mächtiger, rundum interessanter Bau.
An jenem Abend war Michael Barenboim mit Studierenden der Barenboim-Said-Akademie und einem Mozart-Schönberg-Brahms-Programm dort zu Gast und einer Werkauswahl voll subkutaner Beziehungen. Vor allem aber erklang Schönbergs Phantasy op. 47 für Violine und Klavier in einer kraftvollen und dennoch spielerischen Leichtigkeit, die dem Stück hörbar guttat. Mir fiel dazu eine Bemerkung von Alban Berg ein, der 1922 Anton Webern gegenüber dessen Fünf Sätze op. 5 in der Interpretation des Amar-Quartetts so trefflich wie lakonisch kommentierte: „Wirklich als Musik gespielt.“
Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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