Der Irchel-Park wärmt sich in der Herbst-Sonne. „Geduld, bald brennts“ hat jemand mit breitem Filzstift auf einen Papierkorb gesudelt. Hundert Meter entfernt davon werden mehrere Fahrzeuge des Militärischen Sicherheitsdienstes und dem des Kantons Zürich in Stellung gebracht. Doch die grauen Herren sind nicht wegen der Bekundung der Gedulds-Dialektik vorgefahren, sondern widmen sich dem Bunker, dem der Park als Kopfdecke dient.
Da Zürich auf absehbare Zeit mit Bombenangriffen kaum zu rechnen hat, wird wohl – wie von der rechtsradikalen Mehrheitspartei des Landes verlangt – die Umnutzung des absurden Bauwerks ventiliert: die Tauglichkeit solcher Lokalitäten als „Asylantenunterkünfte“. Begleitend lobt die Ringier-Gratiszeitung „Blick“, gerahmt von zynischer Lyrik (!) der SVP-Nationalräte Freysinger und Brand, schon vorab die „engen Verhältnisse“, die den Hilfesuchenden jetzt zugemutet werden. Auch die einst so freie und gastfreundliche Schweiz ist nicht davor gefeit, zu einem nationalistischen und ausländerfeindlichen Staat zu mutieren, der zivilisatorische und humanitäre Errungenschaften Europas aus populistischer Opportunität aufgibt. Auf dem Weg dorthin profitieren die „Steueroase“ und deren Wegelagerervölkchen von der Schwerhörigkeit, Blindheit und dem Wegschauen der Nachbarn.
Die Uraufführung der „Stadt der Blinden“ in Zürich besaß also eine gewisse Aktualität. Amtlich herbeigeführte „enge Verhältnisse“ kamen nach Einbruch der Dunkelheit auf die Bühne des Opernhauses: Die zunächst vereinzelte, dann massenweise Internierung von Menschen, die aus unerklärlichen Gründen plötzlich erblindeten. Die Betroffenen werden, da ihre celebrale Dysfunktion womöglich infektuös sein könnte, vorsorglich, rasch und radikal vom Rest der Bevölkerung separiert und dann, so der Plot, im wesentlichen sich selbst überlassen.
Die Internierten werden sich nach und nach der Lage bewußt, in die sie gerieten. Spätestens, indem sich das Quarantänequartier übermäßig füllt und die Anlieferung der zunächst zugesicherten Verpflegungsrationen nicht funktioniert – und medizinische Versorgung nicht stattfindet (damit deutet sich an, daß die Textvorlage vom Südrand Europas stammt, denn in der Schweiz wäre wenigstens an einen Verbandskasten gedacht worden). Eine Gefangenhierarchie bildet sich heraus und verwaltet die Essensausgabe. Im Zuge der allgemein um sich greifenden Enthumanisierung verlangen „die Starken“ Frauen gegen Essen. Die mitgefangene Frau des von Anfang an weggeschlossenen Augenarztes, als einzige sehend, setzt mit der Schere ein Exempel am Wortführer der Vergewaltiger. Die traumatische Erfahrung dieses Akts der blutigen Selbstjustiz veranlasst sie dann zu einer großen Arie. Sandra Trattnigg meistert sie ebenso bravourös wie die übrigen, die ihr Anno Schreier zugeschrieben hat.
Vom Tappen im Dunkeln
Das Theater Aachen präsentierte vor zehn Jahren eine Saison lang nur Premieren von „Blindenstücken“ – Arbeiten von Beat Furrer, Eugen d'Albert („Die toten Augen“), Offenbach und Méhul; dabei auch Lorenzo da Pontes und Mozarts „Figaro“, in dessen letzten Akt alle im Dunkeln tappen, bis Licht der Aufklärung eine Fermate im erotischen Spiel bewirkt. Der Komponist Anno Schreier, 1979 in Aachen geboren, hat Paul Esterhazys dramaturgische Radikalkur als Jungstudent mitbekommen und nun im Nachgang auch ein „Blindenstück“ geschrieben. Für den an einen Wettbewerb des Züricher Opernhaus zu Kurz- und Klein-Opern sich anschließenden Kompositionsauftrag für ein abendfüllendes Werk und die große Bühne wurde einer der bedeutenden Romane José Saramagos, des portugiesisch-spanischen Kommunisten und Literatur-Nobelpreisträgers des Jahres 2008, adaptiert: „Ensaio sobre a Cegueira“.
Produziert wurde „Die Stadt der Blinden“ in einer Inszenierung von Stephan Mueller und einer von Michael Simon gestalteten grauen Einheitsbühne u.a. dank der Unterstützung durch eine saubere Chemiegeldspritze der Fondation Edouard et Maurice Sandoz, deren Repräsentanten Intendant Alexander Pereira zweimal überschwenglich dankte, und dank der Förderung durch die Kunststiftung NRW, was aber aktuell unerwähnt blieb (das anonymisierte Geld der Steuerzahler aus dem großen nördlichen Nachbarland erschien wohl als Selbstverständlichkeit und wird wie Maut beiläufig eingezogen).
Am Anfang war das Wort: das der Staatsmacht aus dem Lautsprecher, die ihre Anordnungen bekanntgibt. Konnte man bei den nachfolgenden Klangfanfaren und Streicherfiguren zunächst meinen, einem posthum aufgeführten, bis dato noch unbekannten Opernfragment von Richard Strauss beizuwohnen, belehrt Anno Schreiers Tonsatz die Hörer bald, dass er aus verschiedenen Schichten des 20. Jahrhunderts schöpft, um eine vielgestaltige, jeweils text- und situationsbezogene Musik zuwege zu bringen. Zsolt Hamar dirigiert sie mit Lust an expressionistischer Nachdrücklichkeit und Gespür für illustrierende Effekte. Er macht damit zum Teil wett, was die Inszenierung im hermetisch grauen Geviert nicht leisten kann: Bedrohung und Schrecken atemberaubend machen. Am nachdrücklichsten gelingt dies mit einem auch an Altmeisterlichkeit gemahnenden Turba-Chor.
Ein Team starker Stimmen wurde in Zürich aufgeboten, aus dem die Männerpartien des Augenarztes Reinhard Mayr, des Autodiebs Peter Sonn und des Taxlers Thomas Tatzel hervorragen, insbesondere auch die anrührende Leistung von Rebeca Olvera als „junge Frau mit der Brille“. Sie wurde beim Liebesakt im Hotel mit Blindheit geschlagen und kümmert sich dann um das besonders verlorene blinde Kind, dessen Fragen und Einwürfe der Komponist allemal eine Akkordeon-Figur zugesellt.
So unerklärlich, wie die Erblindungs-Epidemie eintrat, verschwindet sie auch wieder. Saramago blieb skeptisch, ob die Leute durch dergleichen Erfahrung wirklich lernen. Die neue Züricher Oper wird pathetisch mit Poesie wie dieser: „Sehend wage ich kaum einen Blick zurück“. Und leise verhallt die Schluss-Sentenz der Primadonna ins Dunkel: „Aber die Stadt hier unten ist immer noch da.“
Ein Prägefehler
Den Titel von Saramagos Roman und Anno Schreiers Oper wollte, weil Polyglottes allemal schick wirkt, das Züricher Opernhaus auch in Blindenschrift auf die Titelseite des Programmheftes stanzen. Wenn ich richtig fühle, steht da aber „blindern“ – eine Mischform zwischen der Bezeichnung für extrem Sehbehinderte und plündern (also die gängige Art des Umgangs mit bedeutenden Hervorbringungen der Kultur- und Geistesgeschichte). Bei diesem Prägefehler handelt es sich womöglich um ein „Freudsches“ Versehen: tatsächlich wurde ja wieder einmal ein bedeutender Roman ohne die nicht mehr mögliche Zustimmung des Autors gefleddert und das auf biedere Weise eingekürzte Kondensat mit einer mit hohem Talent gefertigten Tonspur aufgeschäumt.
Die kleine Panne ist symptomatisch für den gegenwärtigen Zustand des deutschsprachigen Theaters: die breitmäuligen Selbstauskünfte der Betreiber zu ihren Konzepten fußen auf einem etwas schmalbrüstigen Bildungsfundament.