Der deutsche Bundespräsident hat sich in letzter Zeit immer wieder einmal zum Thema Kultur geäußert – nach väterlicher Art voller Sorge natürlich. Zuletzt warnte er beim GEMA-Jubiläum in Berlin vor weiteren Einsparungen bei der Musikerziehung. Die kulturelle Zukunftsfähigkeit Deutschlands sieht er bedroht.
Bildung ist mehr als PISA, sagte er. Und: wir müssten den Boden bereiten für Kreativität. Er sagte noch mehr – siehe und 27 dieser Ausgabe. Irgendwie kommt einem alles, was er redend äußert, sehr bekannt vor. Seine Redenschreiber müssen wohl seit dreißig Jahren regelmäßig die neue musikzeitung lesen. Solange nämlich versuchen kompetente und verantwortungsbewusste Musikfachleute – Pädagogen, aktive Musiker, Wissenschaft- ler et cetera – der Gesellschaft, zu der man gern auch die Politiker zählen möchte, einzuhämmern, wie entscheidend die Kulturpflege des menschlichen Gehirns für die Zukunft dieses Landes ist.
Die PISA-Studie, die auch ihre anfechtbaren Perspektiven besitzt, hat vorübergehend produktive Schockwirkungen ausgelöst, die allerdings schon wieder nachgelassen haben. In Brandenburg zum Beispiel wird das erst vor drei Jahren beschlossene Landesgesetz zur Unterhaltung der Musikschulen finanziell schon wieder ausgehöhlt (siehe Seite 30 dieser Ausgabe). In Nordrhein-Westfalen etabliert das Land mit Millionenzuschüssen eine pompöse Triennale, um die Ruhr-Region kulturell überregional aufzurüsten, gleichzeitig kürzt sie den heimischen Theatern entgegen ursprünglichen Beteuerungen die Zuwendungen und beschädigt dadurch das künstlerische Angebot an das treue Stammpublikum der Traditionshäuser. Der Bundespräsident ähnelt bei seinen Ansprachen an die Kulturnation dem Komiker Buster Keaton: Während dieser auf seiner Lokomotive namens „General“ zielstrebig zu seiner Truppe an die Front dampft, bemerkt er vor lauter wuseligem Übereifer weder den Verlust der angehängten Waggons noch die zurück fliehenden eigenen und vom Feind verfolgten Soldaten.
Der politische Kulturverbalismus trägt durchaus Anzeichen einer Schizophrenie. Rede und Tat klaffen ständig weiter auseinander. Man kann auch nicht alles und jedes auf die aktuelle Geldnot schieben. Warum ergeht es uns im Augenblick so miserabel? Vielleicht auch deshalb, weil die Gesellschaft und mit ihr ihre politische Repräsentanz schon in Zeiten prosperierender Wirtschaft die Wichtigkeit und den daraus folgenden Anspruch von Bildung und Kultur für die Zukunftsfähigkeit unserer Sozietät nicht im zu fordernden Maße ernst genommen hat. Jetzt schlägt die Ero-sion in der Kulturlandschaft und nicht nur dort Tag für Tag stärker durch und das Gejammere ist groß. Und wenig Hoffnung kommt auf, schaut man auf diejenigen, die eigentlich berufen wurden, den politischen Raum zu schaffen, den Bildung, Kunst, Kultur in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit benötigen, um ihre innovativen Energien zum Nutzen und für die Zukunft einer demokratischen Bürgergesellschaft zu entfalten.
Nur zwei Exempel (ohne Namensnennungen) aus der Welt des Musiktheaters: In Köln lässt der CDU-Oberbürgermeister der designierten Opernintendantin telefonisch mitteilen, dass sie in Köln nicht mehr erwünscht sei. Die düpierte Kulturdezernentin „bedauert“ – sie hat anscheinend auch sonst nicht viel zu sagen. Zu einem derartigen Eklat kann es doch nicht kommen, wenn im Vorfeld einer personellen Entscheidung entsprechend detaillierte Verhandlungen geführt werden. Woher beziehen eigentlich Oberbürgermeister und Kulturdezernentin ihre Qualifikation als politische Führungskräfte? Wenn ein Künstler womöglich inakzeptable Forderungen stellt, lässt sich eine Entscheidung für oder wider doch sicher bei den Verhandlungen herbeiführen. Die gleiche Inkompetenz in Hamburg, wo eine nun wahrhaft völlig überforderte ehemalige Boulevard-Journalistin als Kultursenatorin dilettiert: Den renommierten Generalmusikdirektor lässt sie gehen, mit dem amtierenden Intendanten wird (angeblich) gar nicht erst gesprochen: Er darf auch abziehen. Für die beiden kommt jetzt eine nicht besonders aufregende Dirigentin in Doppelfunktion von Musikdirektor und Intendant – wo jeder halbwegs Sachkundige doch weiß, dass die Anforderungen, die ein großes Opernhaus heute an eine Theaterleitung stellt, von einer Person kaum zu erfüllen sind. Ein Haus-Musikchef hat genug damit zu tun, das musikalische Niveau zu steigern und zu kontrollieren. Der zuständige Theaterträger sollte das eigentlich aus eigenen oder fremden schlechten Erfahrungen kennen.
Aber das ist vielleicht das allergrößte Ärgernis in den vielen Diskussionen und Streitigkeiten über „die Kultur“: Das Ärgernis trägt den Namen „Kulturderzernent(-in)“, von Fall zu Fall auch gegen Kultursenator(-in) oder Kulturminister(-in) auszutauschen. Die Gründe für das Ärgernis sind dabei differenziert zu betrachten. Einem ungeeigneten Kulturdezernenten ist die Unfähigkeit nicht unbedingt vorzuwerfen. Analog zur Parabel vom Mörder und Ermordeten und der Frage, wer nun am Tod eigentlich schuld sei, könnte man auf die Kultur übertragend fragen: Wer hat denn diese hilflosen, gern ungebildeten, unerfah-renen, meist namenlosen Politiker ins politische Rampenlicht gehoben? Parteilosigkeit bevorzugt, damit den anschließend Geprügelten nur keine parteipolitische Mehrheit und damit auch parlamentarische Macht zuwächst.
Für diesen Zustand tragen andere die politische Verantwortung, denen die kostenintensive Kultur oh-nehin ein Dorn im Sparauge ist, weil sie in ihrer unterentwickelten Vorstellungskraft nicht begreifen können, dass „Kultur“ für eine Gesellschaft das er-ste formkonstituierende Element bedeutet. Wer diese Funktion von Kultur nicht zur Kenntnis nehmen will oder kann, wird auch nicht die Gründe erkennen, warum die gegenwärtige Misere so heftig ausgebrochen ist.