Wenn man den ziemlich kurzen Applaus als Maßstab nimmt, dann war dieser Abend kein allzu großer Erfolg. Recht eilig drängt das Publikum aus dem Teatro Real – zuvor noch geblendet von gleißend gelbem Licht am Ende des eigenwilligen Strawinsky-Melodrams „Perséphone“. Vielleicht war es aber auch nur die Erschöpfung nach dem Absolvieren eines dreieinhalbstündigen Musiktheater-Rituals. Peter Sellars Hang zu Spirituellem, in Verbindung mit einer eher installativen Regie, bricht sich auch in Madrid Bahn.
Auf der Bühne stehen einige Türen, die ebenso umgekippte Bilderrahmen sein könnten, darauf sind eigenartige Steine (Findlinge?) drapiert. Im Hintergrund statten abstrakt bemalte, ständig anders beleuchtete Leinwände den Raum mit mal eher düsteren, mal helleren Stimmungen aus (Design: George Tsypin).
Tschaikowskys letzte (kurze) Oper „Iolanta“ zeigt die Genesung einer blinden Königstochter durch Glaube, Liebe, Hoffnung und die Bereitschaft zum (Selbst)Opfer. Die Handlung spielt im Mittelalter. Strawinskys ebenfalls recht späte „Perséphone“-Vertonung führt in die Antike. André Gide schrieb das Libretto, ihm ging es vor allem um die zwischen Unterwelt und irdischer Sphäre hin und her gerissene Titelheldin. Im Hades hat sie Mitleid mit den schattenhaften Kreaturen, da ihre Abwesenheit weiter oben jedoch ewigen Winter verursacht, teilt sie ihre Präsenz künftig zwischen diesen Ebenen auf. Beide Werke verbindet musikalisch wenig: Tschaikowsky inszeniert die Liebes- und Lebenskämpfe (es gibt auch noch einen adligen Buhler und eine Intrige) gewohnt saftig opulent, Strawinsky meißelt archaische Cluster heraus, tunkt selbige jedoch immer wieder in ein warmes, lichtes Farbbett.
Der noch junge Maestro Teodor Currentzis bevorzugt in Madrid eine recht harte Gangart, was vor allem bei den finalen Iolanta-Szenen zu argem Klangbombast führt, deutlich ausgewogener – auch präziser – tönt der Strawinsky. Paul Groves interpretierte hier sämtliche Männerrollen äußerst differenziert, Dominique Blanc gestaltete die Sprechpartie der Perséphone eindringlich.
Ekaterina Scherbachenko sang die Iolanta formbewusst, nur leider mit etwas Flackern in der Höhe, Pavel Cernoch bot schönsten Minnesang, Dmitry Ulianov überzeugte als Iolantas Vater, gut auch Willard White in der Rolle eines leicht dubiosen Arztes.
Als szenisch-musikalische Klammer postiert Peter Sellars zu Beginn der „Iolanta“ und am Schluß von „Perséphone“ einige Musiker auf der Bühne, die die Sänger in zart duftende Klänge betten. Agiert wird vorwiegend in Form von Anmuts- und Pathosgesten, es gibt viel Händefalten und differenzierte Gebetshaltungen. Auch der Chor mutiert zum (rituellen) Akteur, Perséphones Höllenfahrt ergänzen Tänzer aus Kambodscha. Wo führt das alles nun hin? Ganz klar ins Zentrum des Sellar’schen Weltbildes: dem Ermöglichen von Transzendenzerfahrungen durch Musik, Theater, Tanz – und durch starke, sinnliche Frauen, die einen Leidensweg abschreiten und am Ende nicht nur die Kunst-Welt erlösen (wollen).
Das mag man naiv, kitschig und sehr amerikanisch finden, aber es ist immerhin konsequent gedacht und auch durchgeführt. Noch ein Clou kommt hinzu: die schwülstigen Kantilenen und süffigen orchestralen Bögen Tschaikowskys münden leicht in eine schwärmerische Kunstreligion, Sellars implementiert daher der „Iolanta“ kurz vor dem Ende einige Minuten aus Tschaikowskys „Liturgie des Heiligen Johann Chrysostomos“. Hier gibt es nichts zu sehen, man hört ‚nur’ den von Andrés Máspero fabelhaft einstudierten Chor. Dieser erfüllt den Raum tatsächlich mit reiner, tief empfundener Spiritualität, währenddessen das Publikum hustete und nervös auf den Sitzen rutschte.