Seit einem Vierteljahrhundert wird in der Neuen Musik und überhaupt im Kunstbereich der Verlust der Kriterien beklagt: Jeder Schmarren kann sich heute als Kunstwerk deklarieren und sich mit diesem behaupteten Sonderstatus in den öffentlichen Diskurs einklinken, dem er mit ein paar provokanten Stichworten seine eigenen Regeln aufzudrängen versucht. Was meist funktioniert, denn in unserer postmodernen Medien-Demokratie findet auch der größte Mist seinen Fuhrmann, der ihn auf die Bühne der Öffentlichkeit karrt.
So lange sich das nur im Kulturbereich abspielt, kann man getrost darüber hinwegsehen, denn das Herumgerede gehört hier zum Geschäft und schadet weiter nicht. Schlimmer ist es, wenn es sich auf ethische Werte bezieht, die nicht je nach Bedarf beliebig uminterpretierbar sind. Geschehen ist das aber gerade mit der Diskussion um die Begnadigung eines bekannten Serienmörders, der seine Verbrechen einst politisch begründete und glaubte, sich damit über moralische und juristische Normen hinwegsetzen zu können.
Es geht hier nicht um diesen offensichtlich Unbelehrbaren, der nach Absitzen seiner Strafe wohl für den Rest seiner Tage im eigenen Hass schmoren wird, sondern um die öffentliche Kampagne, die im Hinblick auf seine bevorstehende Freilassung geführt wird. Ein Jahr vor seiner regulären Entlassung sollte der Mörder auf eigenes Verlangen begnadigt werden.
Aber warum eigentlich? Es gibt keinen Anlass. Weder bereut er noch bittet er die Angehörigen der Opfer um Verzeihung noch bekennt er, wem er ganz persönlich in den Kopf geschossen hat. Er verschanzt sich lieber hinter der feigen Gruppenanonymität. Trotz dieser Sachlage wird öffentlich laut über Gnade, Versöhnung und Schlussstrich-Ziehen dahergeredet. Übertroffen wird dieser Schmarren noch durch die Klage über eine angebliche Rachejustiz. Als ob das Recht auf Begnadigung einem Automatismus gehorchte und wie eine volle Bonuskarte an der Supermarktkasse eingelöst werden könnte. So hätten sie es gern gehabt, die mutigen Freiheitkämpfer von einst und ihre heutigen Versteher, die als hartgesottene Atheisten sich nicht entblöden, die christliche Nächstenliebe zu bemühen: Der verhasste Staat als Vollversorger, der ihnen auch noch die Entlastung ihres Gewissens abnimmt, indem er sie mit einer amtlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstattet.
Der Skandal ist nicht das Gemaule des uneinsichtigen Mörders, sondern die Penetranz, mit der ein Bündnis sich moralisch gerierender Linker, das bis ins liberale Lager hineinreicht, seine Art von Recht einklagt. Er beginnt damit, dass der einstige Rektor der Humboldt-Universität, der Theologe Heinrich Fink, sich zum Sprachrohr des Killers machte und seine Grußbotschaft an die Rosa-Luxemburg-Konferenz verlas. Fink galt seinerzeit als Opfer einer wessi-gesteuerten Intrige und musste 1992 als Rektor zurücktreten. Nachträglich muss man für seine Entfernung dankbar sein – als amtierender Rektor hätte er mit seiner Aktion den Ruf der Universität ruiniert. Aber was ist schon zu erwarten von einem Theologieprofessor, der, wie man heute weiß, als IM „Heiner“ die eigenen Studenten an die Stasi verriet.
Der Skandal endet dort, wo ein Oskar Lafontaine sich an die Deklaration des Knastbruders anhängt und ihm bescheinigt, recht zu haben mit seiner Kapitalismusdiagnose. Wie weit heruntergekommen sind eine Partei und ihre Spitzenvertreter, die es nötig haben, sich die Argumente von Mördern auszuleihen? Welches Wählerpotenzial haben sie dabei im Blickfeld? Und was treibt den als RAF-Unterstützer rechtskräftig verurteilten grünen Abgeordneten Hans-Christian Ströbele dazu, in den Chor einzustimmen? Bereits ist im Blog der TAZ wieder vom „Schweinesystem“ die Rede.
Angesichts des Schindluders, der in diesen Kreisen mit dem Begriff der Gnade getrieben wird, ist ein Blick in Mozarts „Entführung“ hilfreich. Gnade, in der Opera seria noch von einem Gott oder Fürsten gewährt, wird hier in einem revolutionären Akt zurückgewiesen. Konstanze wirft dem Bassa Selim lieber ihr Leben vor die Füße, als dass sie sich auf einen Gnadendeal mit ihm einließe. Doch ihr Einsatz ist nicht von Hass, sondern von einem Ethos der Liebe getragen, weshalb sie den Herrscher letztlich überzeugt. Die Szene markiert, wie Ivan Nagel in seinem luziden Mozart-Essay festellte, den Übergang vom absolutistischen Untertan zum autonomen Subjekt.
Der Gnadenerweis, bei Mozart zu einem Akt des aufgeklärten Humanismus transformiert, beruht heute auf demokratischem Konsens und dieser wiederum auf einem moralischen Gefühl von Richtig und Falsch. Daran scheint es heute weitherum zu mangeln, nicht nur bei denen, die aus politischen Gründen von Gnade daherreden. Niemand verlangt von einem verurteilten Mörder die Größe der Selbstpreisgabe.
Aber verlangen darf man, dass er einen Anflug von Humanität zeigt. So lange das nicht der Fall ist, ist die Forderung nach Gnade nichts als Demagogie, um einmal mehr das „Schweinesystem“ vorzuführen. Der Schoß ist fruchtbar noch.
Siehe auch: Nachschlag. Kultur und Leben