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Titelbild: Balkonsingen des Musiktherapeuten Jan Sonntag vor dem  Pflegeheim Haus St. Johannis in Hamburg. Mehr zur Musiktherapie auf den Seiten 13, 14 und 21.  Foto: Eva Häberle
Titelbild: Balkonsingen des Musiktherapeuten Jan Sonntag vor dem Pflegeheim Haus St. Johannis in Hamburg. Mehr zur Musiktherapie auf den Seiten 13, 14 und 21. Foto: Eva Häberle
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Schwer-Mut

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Andreas Kolb über den elementaren Lebensstoff „Musik“
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Das Bild: Ein Musiktherapeut spielt vor den Fenstern eines Altersheims. Das Haus darf er nicht betreten, seine Patienten nicht besuchen. Die COVID-19-Bestimmungen haben es wochenlang nicht zugelassen. Seine Musik wird so vom Heilmittel zum klingenden Ausdruck der Nöte, die die Pandemie in allen Lebensbereichen erzeugt. Das Thema COVID-19 ist inflationär in allen Medien, da scheint es geradezu antizyklisch, wenn die neue musikzeitung Musiktherapie als thematischen Schwerpunkt präsentiert.

Drei Expert*innen auf ihrem Gebiet führen uns auf den Seiten 13, 14 und 21 durch die Thematik „Musiktherapie trifft auf Musikpädagogik“. Dabei stößt man schnell auf aktuelle Fragen. Welchen Stellenwert hat Musik? Ist sie tatsächlich ein elementarer Stoff, der unsere Gesellschaft zusammenhält? Es geht dabei um nichts Geringeres als darum, wie Musik wirkt: auf den Patienten, den Schüler, das Individuum, die Masse.

Kann es sich unsere Gesellschaft leisten, Musik über längere Zeit so zu vernachlässigen, wie es derzeit in der Folge des Lockdowns geschieht: mit Musikschaffenden, die trotz voller Konzertkalender unverschuldet direkt in die Arbeitslosigkeit geraten, und auf der anderen Seite mit Konsumenten, für die Musik mehr ist als eine Vergnügen bereitende Nebensache? Auch wenn sich die Gehirnforscher darüber streiten, welche Rolle Musik in der Anthropologie einnimmt – die eines atavistischen Reiz-Reaktions-Modells  oder die eines komplexen semantischen Systems – es ist ein Allgemeinplatz, dass, wann immer Menschen zusammen kommen, Musik erklingt. Sie ist dauerhaft und universell.

Welche Wirksamkeit sie in der Krise entfaltet, kann man an den zahllosen Aufführungsexperimenten festmachen, die digital sprießen. An Formaten wie 1:1-Konzerten, an gestreamten Darbietungen vor leeren Rängen und an der fieberhaften Arbeit der Dramaturgen, Musik wieder aufführbar zu machen. Dazu zählen neue Formate genauso wie die Neuentdeckung kammermusikalischen Repertoires, das als Kompensat für die großen Konzertevents eine neue Blüte erlebt.

Erinnern wir uns an Robert Schumanns „Album für die Jugend“. Das Album ist nicht vorstellbar ohne den Begriff der Hausmusik, entstanden als bürgerlicher Gegenentwurf zur aristokratischen Kammermusik. Hausmusik rechnet mit dem Dialog, das gehörte Stück soll Gegenstand des Gesprächs werden. Unser postcoronares Musikleben fängt gewissermaßen auch wieder im Wohnzimmer an. Dieses Mal als digitaler Stream. Die nmz berichtet in dieser Ausgabe über die 1:1-Konzerte des SWR, über das Festival für neue Kammermusik in Witten, das zum Radiofestival mutiert ist, und nmz-Online bringt täglich viele Beispiele, wie wirksam Musik Tag für Tag ist.

Musik hilft, trotz der Depression, in die Europas Wirtschaft gefallen ist, die Schwermut aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben – oder ihr Ausdruck zu verleihen. Der Neuanfang vor 75 Jahren war gekennzeichnet von überfüllten Konzert- und Theatersälen. Jetzt gilt es, einen Neuanfang auf Abstand zu bewerkstelligen, der diesen Zustand auf lange Sicht wieder herstellen muss.

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