So kann es gehen: Groß war sie angekündigt – dann blieb sie doch aus. Wo Goethes Mignon noch leiden musste, weil sie die Sehnsucht kannte, musste man im Düsseldorfer Opernhaus manches erleiden, weil sich dieselbe unerkannt im Hintergrund hielt. Dabei hatte Helmut Oehring eigentlich kompetente Geburtshelfer aufgeboten. Hatte Heinrich Heine („Memoiren des Herrn Schnabelewopski“) und Hans Christian Andersen („Die kleine Meerjungfrau“) mittels eines „Erzählers 1“ und „Erzählers 2“ einfließen lassen. Und hatte ebenso großflächig wie unbekümmert die allersehnsuchtsvollsten Passagen aus Wagners „Fliegenden Holländer“ in seine Partitur hineinkopiert.
Und, soviel muss man sagen: Simon Neal, Manuela Uhl, der Chor der Deutschen Oper am Rhein und die Düsseldorfer Symphoniker unter Axel Kober haben das wirklich passabel hingekriegt. Schöne Stellen gab es tatsächlich zuhauf an diesem Abend. Nur, dass sich letzterer dann doch quälend lang dahinzog, weil unterm Strich nichts drin war, was wirklich berührt hätte. Auch nicht (worauf Oehring immer setzt) die in diesem Fall Wagners Senta gebärdende gehörlose Gebärdensprachsolistin Christina Schönfeld. Nicht, weil dieser keine eindringliche Darstellung gelungen wäre. Christina Schönfeld wie der von Oehring engagierte Matthias Bauer als auch vokalperformender Kontrabass-Virtuose für den gedoppelten Holländer, vor allem aber der in seiner selbstverliebten Stimmakrobatik mittlerweile nur noch penetrant wirkende David Moss – sie alle haben sich letztlich selber gespielt.
Sollten es wohl auch. Denn so etwas wie eine Rollen-Dramaturgie oder was dergleichen sonst sein könnte, war in diesem „Bühnenprojekt“ nicht erkennbar. Was wiederum viel mit Oehrings Kompositionsprinzip zu tun hat, das ihn bereits beim Partiturschreiben am Mischpult sieht. Da werden, so versteht es die Dramaturgie der Rheinoper, „Sehnsuchtspotentiale miteinander verzahnt und durch gesungene, erzählende und gebärdende Ausdrucksformen neu aufgeladen“. Verzahnen. Neu Aufladen. Die Recycling-Sprache deutet an, worauf in diesem Fall alles abzielt. Was einmal Werk war und was Oehring sich außerstande sieht, fortzusetzen, das soll doch weiter herhalten – als Steinbruch. Längst geschlossene Stollen werden neu geöffnet, um zu nachzusehen, was sich noch herausholen lässt. Zumal bei den mehr oder minder verfremdeten Wagner-Zitaten, fühlte man sich im Düsseldorfer Opernhaus wie bei einer psychoanalytischen Sitzung, die Unterbewusstes immer wieder heraufspült, um ebenso bald wieder jenem schraffierten, von einer prominent am Bühnenrand platzierten E-Gitarre mitgetragenen Murmelsound Platz zu machen wie dem von Oehrings Parade-Mimen Bauer und Moss präsentierten neurotischem Dauer-Gezappel.
Sehnsuchtsfunken
Ganz grundsätzlich setzt Oehring auf Montage, auf Collage. Was die Einzelteile zusammenfügt, zusammenhält, ist die Hoffnung darauf, dass, wenn Andersen, Heine und Wagner „Traum“ sagen, dies irgendwie die Synthesis stiften könnte, so dass auch wir durchs „Bühnenprojekt“ dessen teilhaftig werden könnten, wovon Oehring nun allerdings sehr glaubhaft und authentisch redet, wenn er über seine Projekte redet: Ohne Sehnsucht ist alles nichts!
Das mag so sein. Man möchte da nicht widersprechen. Nur, dass das Bilden (in diesem Fall der Sehnsucht) ja doch des Künstlers Kerngeschäft ist. Dass dies (in Düsseldorf) nicht so richtig geklappt hat, hat freilich auch mit dem Versagen der Regie zu tun. Claus Guth hat Oehrings Montage-Prinzip stur wie Oskar in eine Stadttheater-Erzählroutine übersetzt und ihr so den letzten Sehnsuchtsfunken ausgetrieben. Die düstere Kirche, die er sich von seinem Ausstatter Christian Schmidt hat bauen lassen, war zum Frösteln. Dass sich Bühnenschlund und Bühnenhimmel auftaten, um gewaltige Zahnräder mahlen zu lassen – der pure Effekt, der „in nichts zergeht“. Und dazu noch der historisierende Wir-tragen-hochgeschlossen-Kostümzwang für Frauen- und Männerchor – dies alles hat dem so sehr der Luft und dem Traum huldigenden Oehring’schen Sehnsuchtsmeer den Rest gegeben. Ausgetrocknet.
Omnipräsent
Um Oehring gerecht zu werden, müsste eine Regie dem gerecht werden, was der Komponist „Antwortoper“ nennt. Darin ist „Werk“ von vornherein ebenso ausgeschlossen wie „neutönendes“ Komponieren, Oehrings Absage an Zeitgenossenschaft. Weswegen es sinnlos ist, wie Guth versucht hat, einen Faden zu suchen, den es nicht gibt. Umgekehrt tritt darin ganz offen das Geheimnis für eine bemerkenswerte Produktivität hervor. Gerade weil Oehring zum Zitat und zum Zitieren so seine eigene Auffassung hat, ermöglicht ihm dies letztlich jene geradezu atemberaubende Omnipräsenz auf den internationalen Bühnen, die wir beobachten.
Demnach soll sein Düsseldorfer Sehnsuchtmeer laut eigener Zählung das „23. Bühnenprojekt“ sein. Woraus man immerhin eine ehrliche Gattungsbezeichnung ableiten darf, heißt „Projekt“ heute doch alles und jedes. Die Rettung des Euro ist ebenso ein „Projekt“ wie das Wohnen und Arbeitslossein eines ist. Und erst recht, was heute so in Opernhäusern passiert. Ist „Projekt“, will sagen: Ist toll. Per se. Weil einmalig. Und wenn’s schief geht (wie jetzt) nicht schlimm, eben weil einmalig.
Anmerkung der Redaktion:
Nach Rücksprache mit dem Komponisten stellt die Redaktion folgende Sachverhalte in den zitierten Passagen richtig:
1.
„Und hatte ebenso großflächig wie unbekümmert die allersehnsuchtsvollsten Passagen aus Wagners „Fliegenden Holländer“ in seine Partitur hineinkopiert.“
„Gerade weil Oehring zum Zitat und zum Zitieren so seine eigene Auffassung hat…“
Helmut Oehrings Auftrag durch den Intendanten der Deutschen Oper am Rhein bestand darin, eine Neukomposition unter Einbeziehung der Originalvorlage „Der Fliegende Holländer“ von Richard Wagner zu erstellen. Die Wagner-Zitate sind in seiner Partitur zu hundert Prozent bearbeitet. Die Partitur besteht insgesamt aus ca. 50 Prozent bearbeitetem Wagner-Material und 50 Prozent Neukomposition betreffend Solisten, Chor und Orchester sowie elektronisch vorproduzierten Surroundsound-Passagen.
2.
„Auch nicht (worauf Oehring immer setzt) die in diesem Fall Wagners Senta gebärdende gehörlose Gebärdensprachsolistin Christina Schönfeld.“
Libretto und Partitur weisen der Gebärdensolistin die Rolle der Kleinen Meerjungfrau zu; in der Düsseldorfer Inszenierung ist ihr die Rolle als Senta 2 zugewiesen. Frau Christina Schönfeld tritt als Gebärdensolistin zwar seit 20 Jahren in Oehrings Werken in Erscheinung, jedoch beträgt dieser Anteil lediglich nicht einmal 10 Prozent des Gesamtwerkes. Oehring setzt in der Breite der Gattungen seines Œuvres auf keine speziellen Solisten.
3.
„…der von Oehring engagierte Matthias Bauer…“
Matthias Bauer wurde wie alle anderen Gastsolisten vom Opernhaus Düsseldorf engagiert; Partitur und Libretto sehen lediglich einen sprechenden Instrumentalsolisten Kontrabass vor.
4.
„…Oehrings Parade-Mimen Bauer und Moss…“
Matthias Bauer und David Moss waren bisher voneinander unabhängig an je drei Aufführungen Oehrings beteiligt; „SehnsuchtMEER“ ist das erste Werk, in dem beide gemeinsam auftreten.
5.
Demnach soll sein Düsseldorfer Sehnsuchtmeer laut eigener Zählung das „23. Bühnenprojekt“ sein
Der Komponist bezeichnet dieses und andere Bühnenwerke als „Musiktheater“, nicht als „Bühnenprojekt“.