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Eine „echte“ mundorgel muß Gebrauchsspuren aufweisen und landet vielleicht auch mal im Gras – vergessen tut sie der Besitzer aber nie! © Ralf-Thomas Lindner.

Eine „echte“ mundorgel muß Gebrauchsspuren aufweisen und landet vielleicht auch mal im Gras – vergessen tut sie der Besitzer aber nie! © Ralf-Thomas Lindner.

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Singen wird erst ab der zweiten Strophe schwierig – „die mundorgel“ wird 70

Vorspann / Teaser

Am 17. August 2023 feiert eines der am weitesten verbreiteten Liederbücher, „die mundorgel“, ihren 70. Geburtstag. Das kleine rote Büchlein, das im Bereich der ökumenischen Jugendarbeit entstanden ist, hat die musikalische Welt mehrerer Generationen wesentlich mitgeprägt und sich allein mit seinen Auflagenzahlen einen festen Platz in der Musikgeschichte gesichert. In den letzten Jahren schwächeln die Verkaufszahlen ein wenig – das Singen scheint bei der jüngeren Generation ein wenig aus der Mode gekommen zu sein.

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Singen wird erst ab der zweiten Strophe schwierig, wenn einem der Text partout nicht mehr einfallen will. Natürlich kann man sich auch an den Philosophen Friedrich Nietzsche wenden und von ihm erfahren, dass ohne Musik (ergo auch ohne Singen) das Leben ein Irrtum wäre. Auch mag man dem Violinisten Yehudi Menuhin glauben, der das Singen als die eigentliche Muttersprache des Menschen bezeichnet. Da wird der Heilige Franz von Assisi bildlicher und besser verständlich, wenn er sagt, dass schon ein ganz kleines Lied viel Dunkel erhellen kann. Vielleicht kann man das Singen einfach auch nur mit Begriffen wie Lust, Geselligkeit, Gemeinschaft und Lagerfeuer verbinden. Der Klarinettist Giora Feidman hat das einmal so formuliert: „Das Lied ist mein Koffer, ist voller Erinnerung. Mit diesem Gepäck bin ich niemals allein“.

Die zweite Strophe ist der eigentliche Erfinder jeglicher Liederbücher. Von letzteren gibt es unzählige, viele nur hektographiert und provisorisch zusammengeheftet, manche kopiert und in Ringbüchern für eine kurze Ewigkeit zusammengeführt. Wohl niemand hätte je damit gerechnet, dass die Idee, die da 1951 in einem Sommerlager des Evangelisches Jungmännerwerkes Kreisverband Köln (dem heutigen CVJM [Anm: Christlicher Verein junger Männer; seit 1985: Christlicher Verein junger Menschen] Kreisverband Köln) geboren wurde, eines Tages Musikgeschichte schreiben würde. Es sollte aktuell und preiswert sein und vor allem in die Brusttasche des damals üblicherweise getragenen Fahrtenhemdes passen.

Vier junge Mitarbeiter aus der Jugendarbeit des CVJM (die Studenten Dieter Corbach, Ulrich Iseke, Hans-Günter Toetemeyer und Peter Wieners) machten sich an die Arbeit und stellten ein Liederbuch zusammen, das auf den Fahrten und Lager, aber auch in den Kinder- und Jugendgruppenstunden verwendet werden konnte. Im Juli 1953 wurde das Manuskript der Druckerei übergeben und schon am 17. August 1953 wurden die ersten 500 Exemplare des Liederbuches „die mundorgel“ ausgeliefert. Der Drucker brachte sie mit dem Fahrrad in den Westerwald, in ein Zeltlager bei Altburg im Nistertal.

„Der Globus quietscht und eiert“

Die mundorgel bot eine gute und praktikable Auswahl an Liedern aus allen Lebensbereichen, die junge Menschen betrafen: Morgen- und Abendlieder, Spirituals und geistliche Lieder, Volks- und Wanderlieder, Folklore, sowie Spiel- und Ulklieder – von „All Morgen ist ganz frisch und neu“ bis „Kum ba yah, my Lord“ und von „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“ bis „Der Globus quietscht und eiert“.

In der ersten Ausgabe von 1953 waren 132 Lieder enthalten, in den 60er Jahren bereits 181 bzw. 186 Lieder. Die 1968er Ausgabe verzeichnete 272 Lieder, 1982 waren es 270 Lieder und die „letzte“ Auflage von 2001 bietet 278 Lieder an. An der letzten Ausgabe haben noch die Erfinder der mundorgel zum Teil mitgearbeitet. Die meisten von ihnen sind mittlerweile verstorben und so soll diese Ausgabe von 2001 die letzte Variante dieser Liedsammlung sein. Die letzte Ausgabe wurde ohnehin primär deswegen nötig, weil man die Lieder an die neue Rechtschreibung anpassen musste, um die Zulassung als Schulbuch weiterhin zu bekommen.

14 Millionen Exemplare

Ende der 90er Jahre hatte „die mundorgel“ bereits eine Auflage von 14 Millionen Exemplaren erreicht. Etwa ¾ davon waren die kleinen annähernd quadratischen reinen Textheftchen, ¼ dieser gigantischen Auflage entfällt auf die ebenfalls sehr handliche Ausgabe im Westentaschenformat mit Noten und Gitarrenakkorden. In den letzten Jahren – nicht nur durch Corona – haben sich die Verkaufszahlen nun stetig nach unten entwickelt. Besaß Anfang der 70er Jahre noch jedes zweite Kind im Alter von 10 bis 15 Jahren eine mundorgel, so war es Anfang der 90er Jahre nur noch jedes vierte Kind und ab Mitte der 90er Jahre nur noch jedes sechste Kind. Neuere Zahlen gibt es leider nicht, aber man darf davon ausgehen, dass sich der Gesamttrend so fortgesetzt hat.

Zur Namensgebung

Den Namen „mundorgel“ hat das Liederbuch übrigens weder von der gelegentlich als Mundorgel bezeichneten Mundharmonika noch von der in China und Südostasien verbreiteten Mundorgel, die dort „Sheng“ genannt wird. Der Titel wurde zu Ehren des CVJM-Kreisvorsitzenden Horst Mundt gewählt, der die ersten Ausgaben der mundorgel federführend mit auf den Weg gebracht hat.

Die letzten „neuen“ Ausgaben der mundorgel sind Großdruckausgaben, zunächst in DIN A5, dann in DIN A6 – lesefreundlicher für „ältere“ Augen. Denn die Liebe zur mundorgel, die denn doch irgendwie ein wenig in die Jahre gekommen ist, ist bei der älteren Generation ungebrochen. So findet man etwa in der Rheinischen Post vom 22.05. 2015 einen Bericht unter dem Titel „Senioren singen aus der Mundorgel“. Dort sagt die Leiterin der (Senioren-)Begegnungsstätte in der Solinger Straße in Langenfeld, Wida Beck: „Beim letzten Mal war es richtig voll. 30 Sänger waren es zum Jahresanfang, dazu drei Gitarren und zwei Mundharmonikas.“ Im Solinger Tageblatt vom 14.01.2019 wird über ein Orgelimprovisationskonzert über die Lieder der mundorgel mit Otto Maria Krämer berichtet: „Die Konzerte im Solinger Orgelpunkt dauern normalerweise eine gute Stunde. Dadurch, dass die Improvisationen des Solisten immer wieder stürmischen Beifall ernteten, trieben ihn die Besucher stets zurück auf die Orgelbank. So vergingen fast zwei Stunden bis Matthias Claudius‘ Schlaflied ‚Der Mond ist aufgegangen‘ den Schlusspunkt setzte.“

Der ehrenamtliche Geschäftsführer des Mundorgel-Verlages, Hilger Müller, sieht die gesellschaftlichen Veränderungen wohl. Seine 17- bis 25-jährigen Kinder würden die mundorgel schon nicht mehr kennen, wenn er nicht bei diesem Verlag arbeiten würde. Müller sieht den Verlag zwar noch lange nicht eingehen, aber weiß schon, dass es ein „Revival“ für den Gesang und dieses Liedgut geben müsste, um auf Dauer überleben zu können. Immerhin gilt es zu bedenken, dass die „Jugendlichen ja auch das Wandern in den letzten Jahren wieder für sich entdeckt hätten“.

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