Die Spannung war groß. Hochgestimmt die Erwartungshaltung, von Thomas Hengelbrock, mehr noch von den Veranstaltern Konzerthaus Dortmund und Philharmonie Essen im Vorfeld nach Kräften befördert. Von beglückten Sängern war die Rede, von ganz neuer Transparenz im Orchester. Ein neuer Parsifal?
Ein neues Licht aufs Werk, soviel wird man sagen dürfen. Hinter der Welt des Fal-Parsis, der Erlösung durch den reinen Tor, ist eine andere Welt zu entdecken. So die Botschaft dieses Abends. Wie überhaupt die konzertante Form einer solchen Aufführung selber ein reiner Glücksfall ist, namentlich für den wagnerinteressierten Nicht-Wagnerianer. Weniger möglicherweise für die Eingefleischten. Dass Hengelbrock den Applaus nach dem ersten Akt per Übertitelung unterbinden wissen wollte, wurde ihm zischelnd angekreidet. Das sei hier doch kein „Gottesdienst“, hieß es da. Eine Bemerkung, die zeigte, dass Hengelbrock keineswegs auf bedingungslose Entzauberung setzte, auf Entmythologisierung oder dergleichen den aufrichtigen Wagnerianer kränkenden Schandtaten. Im Gegenteil, könnte man sagen.
Sicher, erkennbar wenig lag ihm am „Bühnenweihfestspiel“ als das dieser Parsifal seit seiner Uraufführung 1882 in Umlauf ist. Was in einem Konzerthaus ja auch zugegebenermaßer schlecht darstellbar ist. Nein, am Herzen lag Hengelbrock etwas anderes. Es war die Musik der zu Liebe er diesen grandiosen Festparcours ausgerichtet hatte. Was man im Übrigen sehen, mit Händen greifen konnte bevor hier überhaupt ein erster Ton erklungen war. Wie nämlich Hengelbrocks Balthasar-Neumann-Ensemble, aufgestockt auf eine ganze Hundertschaft, das erweiterte Podium des Dortmunder Konzerthauses ausfüllte, schalenartig hinten, an den Seiten erhöht, dies allein war und blieb über die gesamte Aufführung eine Augenweide und Erkenntnisquelle – eigentlich der wahre Gral dieses Abends. Trinket alle daraus, stand zwischen den Zeilen.
Apropos. So sehr Hengelbrock mit diesem gründlich historisch informierten Parsifal der verwässerten, der verunklarten Klangästhetik des Komponisten zur Seite springen wollte, in einem Punkt wollte, konnte, durfte er dem Bayreuther Klangmagier gerade nicht folgen – sich einen Orchestergraben ins Dortmunder Konzerthaus bauen lassen. Nicht die Musik im Dienst der Überwältigung, im Dienst dieses oder jenes Regiekonzepts – hier sollte sie selber im Zentrum stehen. Deshalb galt es, sie sichtbar zu machen, zu zeigen, woher der Klang kommt, wer ihn macht und was die schöne Entdeckung eines historischen Instrumentariums ist. So ziemlich alles war ja neu und anders. Weiche, zart ansprechende Holzflöten, sogenannte deutsche Oboen, im Einsatz heute noch bei den Wiener Philharmonikern sowie extra nachgebaute Alt-Oboen, die Wagner dem Englischhorn vorzog. Auch die Fagotte und vor allem die Klarinetten fügten sich in einen insgesamt weniger massiven, dafür dunkleren, tiefer führenden, intensiver leuchtenden Klang. Ein weiterer spektakulärer Nachbau die über eine Kurbel angeworfene Bayreuther Donnermaschine. Und auch das Blech fügte sich. Zwei Tenor-, eine Bassposaune, eine kleine Basstuba sorgten für Fülle, ohne Schreikrämpfe.
Die Aufmerksamkeit, die Hengelbrock dem Parsifal-Instrumentarium gewidmet hatte, war umfassend. Zugleich, trotz aller Anstrengungen, keineswegs abgeschlossen. So saßen vor seinem Dirigentenpult nach wie vor Bratischsten, keine Spieler der Alt-Viola oder der (nach dem Instrumentenbauer genannten) Ritter-Bratsche. Freimütig räumte Hengelbrock ein, dass immer noch einiges zu leisten sei, um auch für die, wie Wagner fand, „näselnden“ Bratschen eine Lösung zu finden. Dafür spielten die Geigen natürlich auf Darmsaiten und durchgehend vibratolos, was eine seidige Färbung bewirkte. Erstaunlich zugleich, wie mühelos der Streicherkorpus dabei auch zu einem starken Ton fähig war. So sehr Hengelbrock mit seiner feinen Zeichnung, seinen geradezu femininen Einsätzen in diesen Parsifal eine humane Liebenswürdigkeit hineinbrachte – das dramatische Aufbäumen stand ihm nicht weniger zu Gebote. Aber eben, auch im Fortissimo schepperte es nicht. Der Klang auch im Forte transparent, groß. Ein Schwach-, zumindest bleibender Reformpunkt das Dortmunder Gralsgeläut, insofern Hengelbrocks Mischung von Plattenglocken, tiefen Java-, hohen Thai-Gongs aus einem verqueren Pochen nicht herausfand. Ein Detail, das den positiven Gesamteindruck mitnichten störte.
Auch mit einem Mammutorchester, dies die Entdeckung von Dortmund, kann alles gut werden, sobald es nicht als Phalanx, als Drohkulisse daherkommt, sondern in der hengelbrockschen schalenartigen Aufstellung mit eingebauter Klangbalance in Gestalt stereophoner Verteilung der schweren Massen Celli und Kontrabässe.
Neben der Liebe zum historisch informierten Instrumentarium vermittelte sich im Dortmunder Konzerthaus ferner überaus ansprechende Musizierlust. Dass es glänzte und schimmerte, dafür sorgte eben auch ein kompletter Wonnegarten teuflisch holder Stimmen. Den Solisten, befreit vom Zwang, sich gegen das Orchester durchsetzen zu müssen, war das Glücksmoment dieser Aufführung durchweg anzuhören. Insbesondere Matthias Goerne (Amfortas) und Frank van Hove (Gurnemanz) suchten das Lied- im Opernhaften. Wozu die, gemessen an der konzertanten Darbietungsform, zur Überzeichnung neigenden Angela Denoke (Kundry) und Simon O’Neill (Parsifal) an den weiteren Aufführungsorten Essen und Madrid noch finden können. Ansonsten, von der Empore singend, ein samtener Balthasar-Neumann-Chor und, ganz oben im Top, die famosen Jungs von der Dortmunder Chorakademie. Wagner, soviel steht fest, hätte jedem von ihnen ein Eis spendiert.