Carl Orffs uraufgeführtes Jugendwerk, das Musikdrama „Gisei“, von ihm verworfen, jetzt nach fast 100 Jahren doch noch auf die Bühne des Darmstädter Staatstheaters gebracht, zeigt in Ansätzen, was Orffs späteres musikdramatisches Opus kennzeichnet: die Suche nach neuen Klängen, Vitalisierung elementarer Rhythmen, Dramatisierung der Sprache, Auseinandersetzung mit dem Denken und Handeln fremder, hier fernöstlicher Kulturen.
Orff traf in seiner Entdeckerfreude auf das von Karl Florenz übersetzte Textbuch des altjapanischen Trauerspiels „Terakoya“ (Die Dorfschule), populäres Thema in den verschiedenen japanischen Theater- und Puppenspielformen. Ein Motiv daraus gab das Sujet für das 1913 von ihm fertig gestellte Musikdrama „Gisei – Das Opfer“, diese brutale historische Auseinandersetzung in feudalistischer Denk- und Handelsweise, bei der der absichtliche Tod des falschen Sohnes zum Opfer und zum Mutterschmerz wird.
Durch verkürzende und verändernde Bearbeitung hat Orff diesen Teil des japanischen Historischenspiels in ein eigenes passendes Konzept gebracht. Die einschließlich Regieanweisungen komplett und minutiös fertiggestellte Partitur (Aufführungsdauer 50 Minuten), bis jetzt weggeschlossen und nun doch von Liselotte Orff zur späten Aufführung freigegeben, liefert ein spätromantisches Klangbild dank eines vollen symphonischen Apparates, in dem sich Funktionen schon zu ändern scheinen, so die Streicher mehr als Klangteppich dienen, daneben ein schon erweiterter Schlagzeuginstrumentarium, wobei Bläser mehr rhythmische und farborientierende denn melodische Funktionen übernehmen.
Wohl verständlich, dass den 18-Jährigen die damalige traditionelle Theorieunterweisung an der Münchner Akademie der Tonkunst wenig befriedigte. Denn er ging selbständig auf Entdeckungsreise: Debussys Musik weckte in ihm avantgardistische Begierde nach Andersartigem, sich mit Exotischem auseinanderzusetzen, sich aus anderen Tonsystemen und Rhythmen inspirieren zu lassen, immer auf der Spur nach neuen klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten und virtuellem Melos.
Doch sind die bei Orffs „Gisei“ verwendeten musikalische Mittel nicht alleine, sondern nur in der Verzahnung, im Zusammen- und Ineinanderwirken von Klang, Bewegung und visuellem Eindruck verständlich. Auch die Gewalt japanischer Wortkunst und Sprachartikulation ist hier ebenso tragendes Element, wie die spezifische Haltung, Bewegung und Gestik der in kostbare farbenprächtige Kostüme gekleideten Figuren. Die szenische Darstellung, gemäß japanischer Theaterpraxis vor symbolhafter Kirschbaum-Kulisse, hinterlässt sowohl in gesamtkünstlerischer Hinsicht wie im Hinblick auf die tragischen tiefenpsychologischen Vorgänge auf der Bühne einen bewegenden Eindruck.
Gegenübergestellt als Kontrast hat das Staatstheater Darmstadt am gleichen Abend Orffs letztes Bühnenopus „De temporum fine comoedia“, das Spiel vom Ende der Zeiten, Vigilia, (1973 in Salzburg, in der 1981 revidierten Fassung, 1994 in Ulm uraufgeführt), in dem über das Ende aller Zeiten vielschichtig philosophiert wird, aus vor- und frühchristlicher Warte und schließlich tief unsere eigene Existenz anrührend.
Das Staatstheater hat in der Regie von John Dew keinen Aufwand gescheut, für beide Werke eine höchst eindrucksvolle, geschickt lichtunterstützte Bühnenpräsenz zu schaffen: Bewegung und Sprachgestik von Solisten und erweitertem Staatstheaterchor auf höchstem Niveau, dazu der partiturgemäß perkussiv aufwendig ausgestattete und beanspruchte Orchesterapparat unter der alles zusammenfassenden musikalischen Leitung von Constantin Trinks. Das volle Haus gratulierte mit lang anhaltendem Applaus.
Parallel dazu lud das Orff-Zentrum München zu einem wissenschaftlichen Symposium nach Darmstadt ein, bei dem Musikethnologen, Japanologen, Theater- und Musikwissenschaftler Orffs Jugendwerk, seine Einflüsse und Ein- und Auswirkungen betrachtet haben. Orffs Bühnenwerk als Gesamtschau zeigt eine Ausstellung des Orff-Zentrums im Foyer des Staatstheaters bis 15. März. Bis Mai bleiben die beiden Bühnenwerke Orffs im Programm des Staatstheaters Darmstadt.