Die Phalanx der Komponisten, die in den letzten sechs Jahrzehnten zu und mit Franz Kafka Arbeiten für das Theater oder den Konzertsaal vorlegten, ist beachtlich. Aus einem Dutzend größerer Werke ragen insbesondere einige Opern hervor – vornan Hans Werner Henzes „Landarzt“ (aus der frühen Nachkriegszeit), Gottfried von Einems „Prozess“ (Salzburg 1953), Roman Haubenstock-Ramatis „Amerika“, Aribert Reimanns Berliner „Schloss“ und Philippe Manourys „K. …“ (Paris 2001).
Auch der Münchener Kompositionsprofessor Hans-Jürgen von Bose beschäftigte sich mit Musik zu Kafka-Texten. Seine Karriere begann im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts mit Auftritten, die sich gegen den Dogmatismus der „Darmstädter Schule“ richteten – gegen (angebliche) ästhetische Diktate und den „Intellektualismus“ der Modernisten. Ihnen gegenüber wurde, was sich auch in Osteuropa in den 70er und 80er Jahren herausbildete, restituierte Tonalität ins Spiel gebracht im Zuge methodischer Vielfalt und neue Einfachheit: „Polystilistik“ nebst neuen Gefühlswerten von und für Musik. Kompositionen fürs Theater sollten einen niedrigschwelligen Zugang anbieten, zugänglich und zugleich komplex wirken.
Nachdem er sich einige Jahre lang aus gesundheitlichen Gründen aufs Land zurückgezogen hat, versucht von Bose in dieser Saison ein Comeback mit einem verzweigten „Kafka-Labyrinth“ – mit einem inhomogenen Großprojekt, aus dem sich verschiedene Theaterdirektoren, Regisseure und Dirigenten für einzelne Abende mit szenisch angereicherter Kafka-Musik bedienen sollen. Bose kombinierte sich aus Kafkas Texten „Die Verwandlung“ und „Der Prozess“ – beide entstanden während des ersten Weltkriegs – sowie aus Tagebucheinträgen und Briefzitaten eine Collage, die Konturen eines musiktheatralischen Portraits wie im Spätherbstnebel umreißt (Sichtweite unter 50 Metern). Roland Geyer, Direktor des Theaters an der Wien, hat sich auf eine Anwendung eingelassen. Er beauftragte Peter Pawlik in der von ihm mitbetriebenen Kammeroper am Fleischmarkt, eine Kafka-Szenenfolge zu inszenieren. Sie kam unter dem Titel „Verkehr mit Gespenstern“ heraus.
Indem sich ein Akkordeonspieler zum zunächst einsamen Cellisten auf der Bühne einstellt, dann auch noch der Countertenor Tim Severloh und der Bariton Falko Hönisch, entwickelt sich Kammerpolyphonie. Die beiden Sänger sind ausstaffiert wie typische Angestellte einer in sichere Distanz entschwundenen Nachkriegszeit. Sie hantieren mit Garderobenständern bzw. gestikulieren hinter neusachlichen Büroschreibtischen, sind sichtbar Repräsentanten der Lebenswelt des Versicherungsangestellten Franz K. Zwei Lampen spenden trübes Licht, wenn so trübsinnige Sentenzen vorgetragen werden wie „im trüben Sinn schlägt eine Uhr“. Rezitiert wird von einem „neuen Kopfschmerz noch unbekannter Art“ und dem, „was vom Leben als Gespenst noch übrig ist“.
Wer gehofft hatte, dass sich wenigstens einer der Akteure des Herren-Quartetts in einen großen Käfer verwandelt, sah sich enttäuscht. Die vier Interpreten bestritten unter verdeckter Leitung von Anna Sushon einen Kammermusikabend, wie er auch vor Jahrzehnten bereits ohne besondere intellektuelle oder theatrale Anstrengung hätte stattfinden können. Dabei muss mit Kafka die Zeit eigentlich gar nicht stehen bleiben. Signifikant bemerkt der Cellist, der auch sprechen muss: „Lärmtrompeten des Nichts“.
Der Komponist versprach, mit seiner Folge überwiegend sehr ruhig gehaltener Szenen den Weg in eine neu erschaffene „Innenwelt“ von Kafka-Texten anzubieten, ja: Kafkas Kopf „begehbar zu machen“. So weit kam es zum Glück nicht. Das Publikum blieb brav auf seinen Plüschsesseln sitzen und lauschte Sentenzen wie „So weit habe ich es also gebracht“ – „So weit habe ich DICH gebracht“. Man wurde dahingehend informiert, dass „von der Literatur aus gesehen ein Schicksal sehr einfach“ sei. Merke: „Man lernt das Matrosenleben nicht durch Übungen in einer Pfütze“. Dass die Komponisten entdeckten, wie bequem sie es sich selbst machen können, indem sie sinnhaltige Texte filetieren und in Hinblick auf kleingehäkelte musikalische Aktionen filtern, erweist sich – unbeschadet der intendierten neuen Kunstförmigkeit in den Sphären der Klänge – nicht unbedingt als Segen. Zumal die inzwischen bereits stark gealterte Faustregel gilt: Wer für Cello schreibt, schreibt ab. Und keineswegs nur, wie von Bose dreist praktiziert, bei Johann Sebastian Bachs Solo-Suiten, sondern auch noch hier und da bei anderen emsigen Schöpfern von Kammermusik im 20. Jahrhundert. Tatsächlich verhält es sich so, wie Kafka klug resümierte: „Von der Literatur aus gesehen ist ein Schicksal sehr einfach“.
Dabei hat sich die neue Einfachheit, aus deren Überraschungsmoment heraus Bose seine Komponistenkarriere startete, inzwischen mit mancherlei Vertracktheit angereichert. Dem polystilistisch begründeten Kontrastreichtum ist dies förderlich. Das Versprechen, Kafkas Witz, Komik und Zynismus deutlich zu machen, haben dann allerdings weder der Komponist noch der Regisseur ernsthaft einzulösen versucht. Eher Idylle als Satire ist wohl intendiert, wenn zwei Kinder aufgeboten werden. Der Knabe darf mit Bauklötzen spielen, das Mädchen bekommt Malwerkzeug ausgehändigt. Sie schreibt Kafkas Sterbedatum auf das Blatt und heftet es an die Wand. Da wird der Tiefsinn hochgehängt.
Generell west ein Nachhall von Existentialismus fort. „Verkehr mit Gespenstern“ kreist um das Schicksal des Einzelnen in der Masse und um literarisierte Ängste: Um die vorm Vater, aber auch um die aus gescheiterten Hochzeitsvorbereitungen resultierenden und die vor kleinem Getier (wie leise knabbernden Mäusen – „Gespenstern im Zimmer“). Weiters geht es um Lebensschmerz (eingestandenermaßen „ein Verkehrshindernis“) und die Einsicht in die Untauglichkeit der genossenen Erziehung. Aber das alles nur in kleinen Häppchen. Sehr kleinen Häppchen.