Das Landestheater Linz hat ein neues Großes Haus erhalten – am „Volksgarten“ nächst dem Hauptbahnhof. Erbaut wurde es seit 2009 nach einer Planungs- und Vorlaufzeit von mehr als siebzig Jahren an der Stelle der bereits von und für Adolf Hitler geplanten Opernhauses. Eröffnet wurde es nun mit Bundespräsident Heinz Fischer und der gigantischen Ligth-Show „Ein Parzival“.
Bei ihr wirkte die als „Spektakeltruppe“ angekündigte katalanische Künstlerformation La Fura dels Baus, die vor 14 Tagen in Köln einen neuen „Parsifal“ beturnte, mit Tauchern, Läufern, Kletterern und Skifahrern aus Linz und Umgebung auf dem Theater-Vorplatz zusammen. Größere Erwartungen hinsichtlich des nachhaltigen Publikumszuspruchs verbinden sich mit der Österreichischen Erstaufführung der „Hexen von Eastwick“ (nach John Updikes Roman von John Dempsey und Dana P. Rowe) – adressiert an jene „breiteren Publikumsschichten“, die dringend mobilisiert werden müssen, wenn der große Saal mit 1.250 Plätzen längerfristig ausgelastet sein soll. Bei der zwischen Opern-Air-Spektakel und Musical als künstlerisches Highlight annoncierten Uraufführung der Peter Handke-Oper „Spuren der Verirrten“ gähnten selbst am Premierenabend reichlich leere Plätze im Parkett und auf den beiden Rängen.
Wer sich dem Tatort zum Zweck der Spurensicherung von der Altstadt her nähert, sieht die Straßenbahnlinie in Höhe des Volksgartens mit einer entschiedenen Rechtskurve zum Bahnhof hin abbiegen und über den Gleisen ein Gebäude, das weder von außen noch im Inneren anmutet, als wäre es im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts errichtet. Städteplanerisch wirkt der Baukörper wie ein Lückenbüßer, nicht eben glücklich an der Ecke platziert. Die Fassade unterscheidet sich zwar von dem, was der nachmalige deutsche Reichskanzler bereits in den 20er-Jahren konzipierte und in den späten 30er-Jahren dem Berliner Architekten Paul Baumgarten zur Vorgabe machte. Aber was jetzt die Pforten öffnete, wirkt mit den funktional kaum zu begründenden dicken Betonlamellen vor der Dachetage wie eine Mischung aus Kulturpalast osteuropäischen Zuschnitts der 80er-Jahre und Regionalbahnhofsneubau – weder luzide, noch gar elegant oder kulturschick.
Innen dominiert in den Treppenhäusern und im Auditorium Holz in verschiedenen dunklen bis dunkelsten Tönen (Braunau ist nicht allzu weit). Man ahnt, dass diese Farbgebung nicht hätte zwingend sein müssen, die Gnade der späten Geburt aber keine Berührungsängste mit kontaminierter Farbsymbolik mehr kennt. Ausgerechnet an dieser Stelle. Die örtliche Presse hat die Vollstreckung des Führerwillens durch eine ansonsten eher farblos-schwarze Landesregierung per Karikatur genüsslich aufgespießt (auch das ist Österreich, nicht nur die Kontinuität!).
Technisch freilich, so wird bei der Begehung versichert, ist die hufeisenförmige Haupthalle ebenso wie die Nebengelasse aufs Feinste und Neueste gerüstet. Die Akustik ist, soweit sich dies an einem einzigen Abend von einem Platz hinten im zweiten Rang aus beurteilen lässt, transparent und präsent. Wie sie sich bei einem „Idomeneo“, einem „Rosenkavalier“ oder einer weniger massiv orchestrierten Oper des 20. Jahrhunderts bewährt, bleibt abzuwarten.
Dennis Russell Davies, Leiter der Opernsparte und Chefdirigent des Bruckner-Orchesters, setzt sich seit Jahren für seinen Landsmann Philip Glass ein, der vor vierzig Jahren als Pionier der Minimal music weltweit zu Rang und Namen kam. Zuletzt verhalf Davies dessen Oper zu Johannes Kepler in Linz zur Uraufführung, brachte dann auch die IX. Symphonie von Glass heraus. Der Dirigent ist mit den strapaziösen Halte- und Hänge-Partien der Glass-Musik ebenso bestens vertraut wie mit deren rhythmischen Finessen und der Aufgabe, durch hellwache Präsenz die Spannung zu wahren. Insgesamt wirkt der Tonsatz kleingliedrig-wechselfreudiger als einst bei „Einstein on the Bach“, variantenreicher also und kurzweiliger. Die gealterte Minimal music ist konzilianter geworden.
„Wir haben schon Schlimmeres überstanden“, skandiert ziemlich zu Anfang des Episodenstücks von den unergründlichen Irrwegen ein Alter, der mit seiner Alten unter einem etwas zu groß geratenen Tisch des Hauses zwischen ohne erkennbaren Sinn und Verstand aufgestellten Einbahnstraßenschildern kauert. Auch eine erratische Riesenkugel bietet sich seitwärts als markantes Symbol an und im Hintergrund ein gewaltig vergrößertes Gehirn in Kunststoff. Der Hausherr, Intendant Rainer Mennicken, dampfte einen zeitgeistgenährten, dabei aber geistig nicht sonderlich nahrhaften oder gar brillanten Text von Peter Handke ein. Ob Sätze wie „Du hast dein Leiden mit Geduld ertragen“ ironisch gemeint sind oder unfreiwillig komisch geraten, mag strittig bleiben. Mit mehr oder weniger Handke wurden jedenfalls Paare als Passanten präsentiert. Dazwischen immer wieder (absichtsvoll?) dilettantisch arrangierte Parodien von TV-Sendungen „Pro und contra“. Die Textsplitter geben auch das her.
Drei Alphornspieler bringen Ruhe in die hektischen Aktionen der Balletteusen in kessen Dirndln, auch ein Schaf auf Rollen, die Milchkuh und später überdimensionale Hasen. Einen Anflug von subkutaner Botschaft vermittelt der doppelt armlose Invalide, dessen Vater schon den Heldentod starb und dessen Großvater im ersten Weltkrieg auf der Strecke blieb (man ahnt, dass da Pazifismus irgendwie ein Anliegen sein könnte – zu verstehen ist es nicht).
Die erste halbe Stunde der zweiten Halbzeit ist dem Ballett gewidmet. Für den Schleiertanz der Salome und deren nackten Tod, für das ausgetanzte Zerwürfnis Isaaks mit Vater Abraham sowie die Vorwürfe der Tochter an Mutter Medea („Hast du je deine Kinder geliebt?“), schließlich für das pantomimische Zusammentreffen von Oedipus mit Rosenkavalierspersonal funktioniert die Musik mit ihrem beharrlichen Drive verblüffend gut. Dann zieht das Orchester aus dem Graben auf die Bühne und demonstriert, wie ansprechend es auch von dort aus klingt. Russel Davies treibt zu einem von David Pountney in aufwendigster Kitschpracht arrangierten Finaltableau eine Ode an die Lebensfreude an. – Kurzer Beifall und alles drängelte hinaus zum Gratisbuffet.
Die Spuren des Verirrten stammten übrigens von einem kleinen Singvogel, der während einer urlaubsbedingten Abwesenheit des Dichters Handke Zuflucht in dessen Domizil durch ein gekipptes Oberlicht gesucht, dann in seinem Todeskampf erheblichen Sachschaden angerichtet hatte. Welch Gleichnis des Lebens! Die einen halten es für Ausbund von Tiefsinnigkeit. Die andern denken lieber weg und trösten sich damit, dass zum ersten Mal die Möglichkeiten des neuen Linzer Theaterhauses voll genutzt wurden, dass sich Bühnentrubel, Musikwirbel und Lichtzauber ohne intellektuelle Herausforderung entfalten konnten. Kompliment also an den Ballettmeister Amir Hosseinpour, die Kostümbildnerin Anne Marie Lengenstein und den Bühnenrauminstallateur Robert Israel sowie insbesondere das technische Team um Philipp Olbeter.