Wie ein wankendes Stehenbleiben, ein sich des Standpunktes vergewisserndes Innnehalten klingt es, wenn Flöte und Klarinette in Helena Tulves „stream 2“ gleichsam aufbrechen zu einer Wanderung entlang eines langsam fließenden Stroms. Mit diesem 2009 komponierten Stück der bekanntesten estnischen Gegenwartskomponistin eröffnete am Donnerstag das Ensemble Aventure in der Halle400 die 4. kieler tage für neue musik und warf damit auch gleich ein Schlaglicht auf den skandinavischen Schwerpunkt der vom Neue-Musik-Projekt chiffren organisierten Biennale.
Neue Musik, das wird schon in dieser „Ouvertüre“ deutlich, lotet Standpunkte aus, nimmt Verortungen in Klangräumen vor, die sich oft nah der Stille befinden, selbst da, wo die Musik laut wird. Jeder Schritt aus dem Geräusch in den Klang, aus dem Kontinuum der Stille in das punktuelle Ereignis bleibt wie durch ein zart gesponnenes Band mit seinem stillen Ursprung verbunden. So auch in Wolfgang Motz’ Stück mit dem programmatischen Titel „de profundis“. Buchstäblich aus einer dunklen Tiefe kommen hier die flüsternden Aufschreie von Fagott und Bassklarinette, begleitet von Schlägen oder Strichen mit dem Jazzbesen auf einer großen Trommel. Das hat eine archaische Anmutung, etwas Urtümliches, wonach die Neue Musik oft forscht – nach dem Ursprung des Klangs, seinem Ausgangspunkt. Für Oliver Korte liegt der im von Samuel Beckett bedichteten Nichts, im „rien nul“, so auch der Titel der Komposition für Sextett, die von brüchigen Flageoletts der Streicher und geradezu entmaterialisiert klingenden Bläsern dominiert wird. Von einem „Sog des Verstummens“, einem „Nichtswärts“ spricht der Komponist treffend im Programmheft.
Auch Natalia Solomonoff ist in „Tarjo“ auf der Suche nach Bruchpunkten oder -linien. Der Titel bezieht sich auf einen Begriff des argentinischen Tangos, der einen Riss, eine Wende bezeichnet. Entsprechend sind die Klangbewegungen stets auf einen Stillstand bezogen, von dem sie ausgehen, in den sie auch wieder münden. Etwas Zyklisches, mit dem die argentinische Komponistin auf die wiederkehrenden Zyklen in der Geschichte ihres Heimatlandes anspielt. Um (Zeit-) Punkte, Linien und daraus sich bildende Flächen geht es Günter Steinke in „Area II“, welches hier seine Uraufführung erlebt. Punktuelle Ereignisse verdichten sich zu Flächen, um sich aber auch immer wieder aus dem Kontinnum in eine körnige, pixel-artige Struktur aufzulösen. Eine Klangeometrie, die der Stille den Klang wie ein Koordinatennetz überstülpt, den stillen Standpunkt ins Mehrdimensionale dehnt.
Solches Setzen von Wegpunkten in die Stille ist in diesem Konzert das verbindende Element der Werke. Woher solche Erforschung der Stille in den Klang hinein musikgeschichtlich kommt, zeigt dann noch einmal John Cages „Winter Music“ in der Version von 1957 für präpariertes Klavier. So kurz das Stück ist, definiert es doch eine komplette Grammatik für das Sprechen aus der Stille heraus, aus dem Nichts in das Sein – und zurück.