Luigi Gaggero ist seit 2018 Chefdirigent des Kiewer Symphonieorchesters und seit 2014 Musikalischer und Künstlerischer Leiter des Ukho Ensemble Kyiv. Er ist Professor an der Académie Supérieure de Musique in Straßburg. In einem Text vom 26. Februar schildert er hier in offener und persönlicher Form seinen Blick auf den Krieg gegen die Ukraine:
In den letzten Wochen habe ich verschiedene Projekte vorbereitet, die im März in mehreren Kiewer Theatern hätten stattfinden sollen: ein Wagner-Programm zusammen mit dem hervorragenden deutschen Bariton Matthias Goerne; ein der Stadt Venedig gewidmetes Konzert (organisiert vom Italienischen Kulturinstitut) mit einem Fokus auf die unverwechselbare Beziehung, welche die venezianische Musik seit Jahrhunderten mit dem Raum unterhält; die Aufnahme von Ligetis Klavierkonzert…
Stattdessen bin ich hier unerwarteterweise in Genua und schreibe diese Zeilen; jede Minute werde ich von den Nachrichten unterbrochen, die mich von den Musikern meines Orchesters und meines Ensembles erreichen: Sie erzählen mir von den Raketen, die auf die Stadt fallen; wie sie in einem Keller, in einer Tiefgarage oder in einer der U-Bahn-Stationen (die in der ukrainischen Hauptstadt in großer Tiefe liegen und daher im Bombenfall sicherer sind als Wohnungen) übernachten; sie schreiben mir auch von den verletzten Kindern, den zerbombten Zivilgebäuden und ihrer Angst; dass sie nicht verstehen, warum sie Putin angreifen konnte - ohne jeden verständlichen Grund (außer vielleicht – denke ich – der Wahn à la KGB, die „Einflusssphären“ um Russland zu rekonstruieren, oder der Wunsch, sich „noch größer“ als Peter der Große zu fühlen)...
Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert ...
Bei dem Versuch, den Konflikt zu analysieren, wäre es nicht schwer, Putins unsägliche Märchen über die Gründe für seinen Angriff, wie sie bereits 2014 zur Rechtfertigung der Besetzung der Krim verwendet wurden, Stück für Stück zu zerlegen: „Einst war die Krim russisch!“ Wie bitte? Abgesehen davon, dass, wenn wir mit „Einst war…“ argumentieren, jeder das Recht und Ansprüche auf alles hätte, vergisst der russische Präsident das kleine Detail, dass die Krim, bevor sie für einige Jahrzehnte russisch war, den Tataren für mindestens zehn Jahrhunderte gehörte: erst am Ende des 18. Jahrhunderts begannen die Russen, die lokale Bevölkerung auszurotten und zu deportieren, um schließlich 1937 die Operation der „Russifizierung“ mit den stalinistischen Säuberungen zu vollenden… Wie kann man also „historische Gründe“ für eine Invasion anführen, die gerade aus historischer Sicht nicht zu rechtfertigen ist?
Noch krasser sind die Vorwürfe angeblicher „Folter“, von denen ich in diesen Stunden lese und welche die armen Russischsprachigen von den ukrainischen Nazis (!) erleiden würden: Ich selbst lebe seit neun Jahren in Kiew und beobachte einen perfekt zweisprachigen Kontext, in dem das Gefühl, „ukrainisch zu sein“, in Bezug auf die sprachliche Zugehörigkeit völlig transversal ist. Vielmehr ist es so, dass die Ukrainer in den von Putin „befreiten“ Gebieten den Schrecken der russischen Oligarchen-Diktatur erlebt haben: Das hat sie wahrscheinlich noch mehr in ihrem nationalen Geist gestärkt und sie sicherlich dazu veranlasst, sich für andere Werte zu öffnen. Tatsächlich glaube ich, dass Putin nicht so sehr Angst vor der NATO-Erweiterung hat, sondern davor, ein Land an seiner Grenze zu haben, das immer demokratischer wird und in dem die Bürgerrechte zunehmend bekräftigt und respektiert werden: Um seine persönliche Macht zu wahren, ist es besser, nicht zu riskieren, dass das eigene Volk bemerkt, dass nur wenige Schritte von Ihrer Haustür Freiheit möglich ist.
Zurück zur Musikwelt: In den letzten Jahren haben sich ukrainische Musiker und das ukrainische Publikum sehr für das europäische Repertoire und den europäischen Interpretationsstil geöffnet: Dies betrifft sowohl die Ausbildung von Interpreten und Komponisten (viele von ihnen studieren in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden), als auch die Offenheit und die Neugier des lokalen Publikums (ich selbst hatte das Glück, viele Konzerte in Kiew zu dirigieren, bei denen Komponisten wie Sciarrino, Gervasoni, Grisey, Ligeti oder junge lebende Autoren vorgestellt wurden, und die Theater waren ausverkauft: Jedes Mal fühlte ich mich wie bei einer Verdi-Premiere an der Mailänder Scala!).
Diese „Offenheit“ stellt keine bloße „Erweiterung des Repertoires“ dar, weil sie mit einer Qualität verbunden ist, die uns im Westen hingegen oft fehlt: das künstlerische Moment als ein geistig notwendiges Ereignis wahrnehmen zu können. Das führt nicht nur zu vollen Konzertsälen (trotz des schwierigen Repertoires), sondern auch zu einer großen Heterogenität des Publikums: Neben betagten Konservatoriums-Professoren sitzen Teenager, DJs und Gurus der Technomusik, Psychoanalytiker, Intellektuelle und Hausfrauen... In der Ukraine sind es nicht nur die „Spezialisten“ oder die „Enthusiasten“, die in die Konzerte gehen: Jeder braucht diesen lebenswichtigen Atem, den nur die Kunst unserer Existenz einhauchen kann ...
Was das Verhältnis zu den Musikern betrifft, habe ich immer einen Unterschied wahrgenommen, den ich versuchen möchte, wie folgt zu beschreiben: Für uns im Westen ist die Professionalität gewissermaßen zu einer Maske geworden: Man kann einen Orchestermusiker darum bitten, auf die eine oder auf die andere Weise zu spielen (weicher, lauter, mehr legato, präziser, ausdrucksstärker), aber in Wirklichkeit geht es bei der Kommunikation (auch der nonverbalen) fast immer um das ‚wie‘ und selten um das ‚warum‘. Kurz gesagt, während bei uns immer mehr auf die textlichen und technischen Aspekte geachtet wird, erlebt man heute im Konzert immer seltener ein „metaphysisches Schaudern“. Im Gegensatz dazu, habe ich in der Ukraine oft Musiker getroffen, die, vielmehr als ihre Hände, ihre Seelen in den Dienst der Musik stellen: Die Ukrainer haben eine unverwechselbare Art zu spielen, bei der in jeder Note eine ethische Verantwortung mitschwingt. Ich hoffe, dass einige Aufnahmen unserer Konzerte besser verdeutlichen, wovon ich spreche. Die Ukraine bewahrt nicht nur eine bekanntlich tausendjährige Tradition und so einen sehr wichtigen Teil des europäischen Kulturerbes, sondern stellt heute auch ein sehr wichtiges „Reservoir“ spiritueller Lymphe dar: Die Leidenschaft, Hingabe, Tiefe und der Idealismus der Ukrainer können eine Quelle der Inspiration für uns alle sein, auch bei der Suche nach unserer eigenen Identität – und das nicht nur als Musiker, sondern als Menschen.
Luigi Gaggero, GMD Kyiv Symphony Orchestra, Musikalischer und künstlerischer Leider des Ukho Ensemble Kyiv, Professor an der Académie Supérieure de Musique in Strasbourg