Vorarlberg ist immer wieder für Überraschungen gut. Auch wenn die Wetterfrösche ein Gewitter gemeldet haben und die Witterung am frühen Abend so wirkt, als müsste die für 21.15 Uhr angesetzte Wiederaufnahme-Premiere von Umberto Giordanos „André Chénier“ hinter Mauern stattfinden, reißt ein heftiger Sturm die dunklen Wolken hinweg, und das Spiel auf dem See findet unter imposantem Abendhimmel, ungetrübt von Regentropfen, statt.
Ein Sturm ereignet sich auch auf den Spielflächen des ungewöhnlichen Wasserbühnenbildes von David Fielding, ein Sturm der Revolution rund um Jean-Paul Marats Kopf, der im Innern eine gewaltige Bibliothek der Juristen des Revolutionstribunals verbirgt. Hier entfesselt Regisseur Keith Warner ein faszinierendes Opernspektakel, das mit einer Guillotine auf dem Wasservorhang eines Spiegels endet. Wie der See, in den sich einmal auch der Haupthandlungsträger per Sprung rettet, ein Spiegel des Geschehens ist, so reflektiert der goldene Spiegel, im Rahmen mit herunterbrennenden Kerzen, die Guillotine, unter der Chénier und seine adelige Geliebte Maddalena ihr kurzes Leben lassen.
Den stärksten szenischen Moment bietet gleich der erste Akt, wenn vier Tänzerinnen und ein Tänzer auf dem zunächst noch abgedeckten, übergroßen androgynen Kopf dem ancien régime ein antikes Schäferspiel als Steilwandakrobatik-Akt vorführen. Durch Beleuchtung wird manches deutlicher als im Vorjahr, insbesondere sind die singenden Handlungsträger, die im Bregenz Open Acoustics System horizontal, weniger jedoch vertikal gut zu orten sind, nun durch Spots deutlicher herausgehoben.
Von der aus dem Wasser empor getauchten Hand Marats wird der Nebenschauplatz aus dem Zentrum nach rechts gerückt, wo die Volksbelustigungen stattfinden, inklusive dem wiederholten Missbrauch einer jungen Gefangenen. Das aufgeschlagene Buch von Chéniers Leben ist der Hauptort seines Wirkens. Über den Text eines seiner Gedichte werfen Projektionen als Schattenrisse die visionären Inhalte seiner Gesänge, später auch die seiner Maddalena.
Mit dieser Opernproduktion auf dem Bodensee wurden durch David Blakes zusätzliche Kompositionen für Übergänge zwischen den vier Akten Giordanos der Oper der Bogen ins 21. Jahrhundert geschlagen. Die im Rücken des Publikums erklingenden Chöre, mit einer wilden Collage aus Marseillaise, „Ah! Ça ira!“ und „Les Voyages du Bonnet rouge“, haben nichts an Schockwirkung verloren: polyrhythmisch und polytonal brechen die vom Chor gleichzeitig intonierten Gesänge in die romantische Welt des Salons. Nach dem komponierten Chaos setzt die Einleitung zum zweiten Akt geradezu nostalgisch ein. Blakes zweite Einlegekomposition, ein elegisches, harfenbegleitetes französisches Lied auf Originaltexte des Dichters André Chénier, wertet die Mulattin Bersi, jene treue Dienerin, die sich prostituiert, um die adelige Maddalena durchzubringen, auf. Krystio Swann gestaltet dies drastisch im Spiel und nachdrücklich mit Mitteln des Gesanges.
Ein Glücksfall ist die Besetzung der drei Hauptprotagonisten mit Sängern, die diese Partien auch an den größten Opernhäusern der Welt, wie der Metropolitan Opera, mit solchem Zuspruch des Publikums verkörpern könnten – wie Intendant David Pountney es bei der Premierenfeier ohne Übertreibung formulierte. Héctor Sandoval ist ein mühelos kraftvoll strömender, sinnlich timbrierter Tenor mit Charisma, Tatiana Serjan eine faszinierende, in allen Lagen überzeugende, jugendlich dramatische Maddalena di Coigny. Das Zusammenklingen der beiden Stimmen bietet gesteigerten Genuss, kulminierend im Entschluss der Liebenden, gemeinsam in den Tod zu gehen. Den Wandel des Dieners Carlo Gérard, von der korrupten Scarpia-Parallelfigur zu einem Helfer des Liebespaares, macht der Bariton John Lundgren durch stimmliche Facetten zu einem emotionalen Erlebnis.
Stimmstark auch der Bregenzer Festspielchor, verstärkt durch den Prager Philharmonischen Chor, die Wiener Symphoniker sauber und inspiriert unter der Leitung von Ulf Schirmer, der Giordanos Schönheiten und Effekte musikalisch auskostet.
Am Ende der Premiere viel Beifall für alle Beteiligten. Giordanos Verismo-Schmachtfetzen, als die bislang am wenigsten populäre Oper auf der Bregenzer Seebühne anfangs heftig umstritten, hat sich bewährt. An Besucherzahlen toppen lässt sie sich hingegen mit Sicherheit von der für den kommenden Sommer in einer Neuinszenierung von David Pountney angekündigten „Zauberflöte“.
Weitere Aufführungen: 21., 22., 24., 26., 27., 28., 29., 31. Juli, 2., 3., 4., 5., 7., 9., 10., 11., 12., 14., 17., 18. August 2012.