Dass Feng-Shui nicht unbedingt das von mir bevorzugte Selbstverwaltungssystem ist, dürfte allein schon beim Anblick meines Schreibtisches eindeutig geklärt sein. Wenn man allerdings durch einen raffgierigen Vermieter-Konzern-Moloch zu einem Umzug gezwungen wird – natürlich in eine etwas bescheidenere Wirkungsstätte – steht man vor dem Problem der Reduktion über Jahrzehnte liebevoll angesammelter und seither nie wieder berührter und dennoch unverzichtbarer Schriftstücke aller Art. Als besondere Rarität fiel mir in der üppig gefüllten Schublade „Unbezahltes“ ein ganz nach hinten gerutschtes knittriges, brüchiges Papierknäuel in die Hände. (Vorab aus der Zeitung „Politik & Kultur“ 2022/03.)
Ich entwirrte es vorsichtig und stellte fest, dass es sich um das uralte Manuskript für ein Referat anlässlich eines sogenannten „Besinnungstages“ der letzten Klasse meines Humanistischen Gymnasiums handelte. Thema: „Die Zeiten ändern sich – ändern auch wir uns in den Zeiten?“ Das Fragezeichen an diese ursprünglich lateinische Sentenz hatte unser Deutsch-Prof, ein ehemaliger Abteilungsleiter des Reichssicherheitshauptamtes, angefügt, wohl um uns mal zum Nachdenken anzuregen.
Noch entsinne ich mich schamvoll, dass ich angesichts meiner Notensituation von einer Ausarbeitung des Nächstliegenden feige absah: „Der Wandel vom Erznationalsozialisten zum humanistischen Germanisten“. Auch nahm ich mir den professoralen Rat zu Herzen, nicht wieder bei Adam und Eva anzufangen, um meinen Beitrag künstlich zu längen (obwohl mir auch hier zum Thema einiges eingefallen wäre). Viel später, eigentlich heutzutage, las ich in einem nicht veröffentlichten, aber mir zugespielten sehr kurzen Glossenfragment von Harald Martenstein eigentümliche Beobachtungen über körperliche Schutzmaßnahmen unserer Politikerinnen und Politiker vor allem bei Auslandsbesuchen – egal ob bei sogenannten befreundeten oder problematischen Treffen.
Zu den üblichen Verfahren zählte die Begleitung eines eigenen Impfteams in Sachen Corona, das Mitführen eigenen Besteckes und Geschirres. Und nicht zuletzt kräftige Kunststoffbeutel für den Abtransport aller selbstproduzierten körperlichen Ausscheidungen. Grund für dieses nur auf den ersten Blick rücksichtsvolle Verhalten sei die tief verwurzelte Angst, DNA-Spuren zu hinterlassen, die Partnern oder Gegnern Rückschlüsse über die aktuelle körperliche Konstitution ihres „Gastes“ ermöglichten. Doch damit nicht genug: Aus den so gewonnenen Informationen könnten mittlerweile auch im Feindesland Klone gebastelt werden, die beispielsweise vergiftete Originale unbemerkt ersetzten und schrecklichen Unfug anrichteten. Sieht man einmal davon ab, dass heutzutage jede Politikerin, jeder Politiker, der etwas auf sich hält, sich eine angeblich an der Bedeutung gemessene Anzahl von Doubles leistet, deren attentatsbedingtes Verschwinden von der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen wird, erschloss sich mir schon seinerzeit – und damit wäre ich wieder beim Besinnungstag-Thema, dass die Pharaonen Hundertschaften von Vorschmeckern verbrauchten, um vor vergiftetem (oder verdorbenem?) Essen und Getränk geschützt zu sein. (Von Cleopatra oder Cäsar ganz zu schweigen). Und hierzulande muss man nur die Habsburger Nasen zählen oder die Seitenscheitel samt Schnurrbart in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts, die gesichtsverhüllenden Langhaare bei den 68ern, um das Ausmaß des Sicherheits-Klonens noch mit ziemlich primitiven Mitteln abzuschätzen. Tempora mutantur – nos et mutamur in illis? Mord aus Machtgier, aus Sehnsucht nach Reichtum, aus ideologischer Verblendung ist von den Pharaonen bis zum Vietnamkrieg ein ewig gleichbleibendes un-menschliches Verhalten geblieben. Das war mein Besinnungs-Fazit – und mein Zwangsabschied aus dem Schulbetrieb. Wegen mitschülergefährdender Paranoia und sozialistisch-gesellschaftsschädigender Verbreitung antikapitalistischen Gedankengutes.
Nun, die Zeiten haben sich, was sogenannte technische – dazu gehören auch medizinische – Entwicklungen betrifft, sagen wir mal: weiterentwickelt. Nehmen wir mich als Beispiel: Ich bin der feige, angepasste Oldie, den es von der Geisteshaltung her wohl schon in der Steinzeit gab, doof wie Adam. Der Mensch hat sich null verändert. Mein Gnadenbrot verschaffe ich mir durch Knechtsarbeiten für das Metaversum. Das Nachschlagen im Wiki erspare ich Ihnen: Das Metaversum (englisch metaverse) ist ein kollektiver virtueller Raum, der durch die Konvergenz von virtuell erweiterter physischer Realität und physisch persistentem virtuellen Raum entsteht – einschließlich der Summe aller virtuellen Welten, der erweiterten Realität und des Internets. Das Wort Metaversum ist ein Kofferwort aus der Vorsilbe meta (in der Bedeutung „jenseits“) und Universum; der Begriff wird üblicherweise verwendet, um das Konzept einer zukünftigen Iteration des Internets zu beschreiben, das aus persistenten, gemeinsam genutzten, virtuellen 3D-Räumen besteht, die zu einem wahrgenommenen virtuellen Universum verbunden sind. In Abgrenzung dazu besteht ein Massively-Multiplayer-Online-Role-Playing-Game aus einer einzigen Welt. Im Metaversum können User die Welten mitgestalten und dort „leben, lernen, arbeiten und feiern“. (Wikipedia)
Alles klar? Schluss mit Arbeiten. Lieber nur Leben und Feiern. Geht doch. In den vergangenen zehn Jahren habe ich jede Menge DNA gesammelt. Wie viele Avatare brauchen Sie denn? Und von wem?
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur