Manchmal ist es gar nicht so übel, geradezu materiell rettend, wenn einen scheint’s abgehakte alte Geschichten einholen: Vor Jahren durfte ich im Beirat einer kleineren deutschen Musikhochschule angesichts meiner bescheidenen Kompetenz überraschenderweise Sitz einnehmen und Stimme erheben. Letzteres tat ich sparsam. Allerdings gab es eine Aufgabe, die mich dann doch etwas lautstärker werden ließ. Es ging darum, die in normal verquastem Juristen-Mittel-Neuhochdeutsch verfasste etwa 20-seitige Satzung dieses Institutes „durchzugendern“, das hieß: die dominant machomäßigen männlichen Formulierungen unter den scharfen Augen der Frauenbeauftragten durch wenigstens „geschlechtsneutrale“ zu ersetzen. [Vorab aus Politik & Kultur 2020/09]
Das normalerweise auf zwei Stunden angesetzte Treffen des Gremiums währte aufgrund des Hin-und-Her-Wogens der Argumente um noch halbwegs verständliche Formulierungen bereits einen halben Tag. Da entsann ich mich des konstruktiven Vorschlages einer emanzipatorisch-kämpferischen Autorin unseres Blattes, nach Möglichkeit durch Einfügen eines Sternchens hinter dem ehemalig eher männlich wirkenden Wort-Rumpf, gefolgt von der „weiblichen“ Endsilbe den dominant monosexuellen Aussagekrampf zu neutralisieren, wobei das Sternchen die Multigeschlechtlichkeit des Begriffes definierte. Sogar der wie üblich im Tiefschlaf versunkene Fagottprofessor erwachte und fiel in den Beifall ein, den mein Vorschlag auslöste.
Als mich kürzlich ein sehr offiziell aussehender Brief in meiner grundsicherungsbedingten Bauwagenunterkunft auf einem verlassenen amerikanischen Kasernengelände erreichte, befürchtete ich schon das Schlimmste: die Vertreibung auch von diesem Stellplatz. Aber was für eine Überraschung: Das Schreiben enthielt eine Einladung zu einem Arbeitsfrühstück im Bayerischen Innenministerium. Grund: Beratungsbedarf samt befristetem Stellenangebot. Nix wie hin, schon wegen der zu erwartenden Weißwurst-Völlerei. Und tatsächlich empfingen mich zwei proper gekleidete, blauweiß maskierte, also offensichtlich höhere Beamte. Nach überraschend freundlicher Begrüßung erfuhr ich, dass man mich wegen meiner hochgradigen Konfliktlösungs-kompetenz einbestellt hatte. An der Stimme erkannte ich, dass es sich um den einst so schläfrigen Fagottprofessor handelte, der wohl den Job gewechselt hatte. Man bot mir aufgrund meiner nachgewiesenen Hochschulgremien-Kompetenz die Funktion eines „Specialist for Political Correctness“ an, die einzige derzeit zu vergebende Stelle als akademischer Hausmeister. Drei Monate Probezeit, kleines Kellerbüro mit Dienstappartement, Assistentengehalt.
Natürlich machte ich mich sofort an die Arbeit. Stufe eins: Korrektur verbaler Gender-Unkorrektheiten in Wort und Schrift. Verschiedene Sendeanstalten hatten – freilich noch sehr lückenhaft – begonnen, ihre Sprecher*innen das geschlechtsneutralisierende Sternchen durch eine kurze Pause mit anschließender Lautstärkeanhebung deutlich zu positionieren. Die Folge: eine faszinierende, rhythmisch pulsierende und insofern sehr modern wirkende Sprachmelodie in Funk und Fernsehen. Synchronstudios und damit neue Arbeitsplätze schossen aus dem Boden, um ältere Filme und Serien in dieser Hinsicht auf den neuesten Stand zu bringen. Etwas problematischer nämliche Aufgabe im Printbereich – beginnend bei der frühkindlichen Bildung bis in den Boulevard- oder Fachjournalismus. Es bedurfte einer gewissen Gewöhnung, beispielsweise Tonträger*-Innenexpert*Innen vor allem bei den eigentlich überkommenen Verlagshäusern als neodudenkonform durchzusetzen. Es galt, Vorurteile zu überwinden. Man könne Begriffe wie Redakteur*Innen oder Banker*Innen oder Journalist*Innen falsch konnotieren, etwa als röntgenartigen Einblick in die Körper oder Seelen der so geschlechtsneutralisierten Persönlichkeiten. Per Ordre Mufti, sprich: Ministerpräsident Söder, wurden solche kleingeistigen Bedenken, verbunden mit ein paar Produktionssubventiönchen flugs aus der Medienlandschaft gefegt. Zumal mein innovativer Vorschlag, das etwas sentimental belastete Sternchen durch einen klaren Doppelpunkt zu ersetzen, auf hohe Zustimmung stieß – vor allem bei Buchverlagen, die erst kürzlich revidierte Auflagen selbstverständlich voll subventioniert nochmals revidieren könnten.
Höchst perspektivreich für sehr viele Medienhäuser auch die von mir – und durch den öffentlichen Druck gewisser politisch teils sehr zu Recht aufgeladener Moralisten: Listinnen – ausgelöste Empörung über die Diffamierung schwarzer Persönlichkeiten z. B. schon in Kinderbüchern: Ich selbst wurde schon sehr früh durch den „Neger Freitag“ in Daniel Defoes „Robinson“ negativ geprägt, ganz zu schweigen von Mark Twains Sklaven Jim etc. in „Tom Sawyer“. Wie schädlich sind denn der „Negerkönig“ in Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ oder Michael Endes „Jim Knopf“ für einen vorurteilsfreien Aufwuchs unserer Kinder und Enkel? Tja, wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Wie sollen wir mit dieser immer noch sehr gebräuchlichen Phrase umgehen?
Ich war gerade dabei, Opern, Theaterstücke, Filme („Vom Winde verweht“, „Othello“, „Onkel Toms Hütte“…) auf die Bearbeitungsliste zu setzen und Stufe drei (Änderung schändlicher Straßennamen wie Mohrenstraße, Demontage anrüchiger Denkmäler (Bismarck, Kolumbus) in Gang zu setzen, da erreichte mich eine verschlüsselte, als sehr geheim klassifizierte Mail des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Laschet: Er hätte von meiner politisch korrekten wertvollen Arbeit gehört, auch von meiner unverdient dürftigen Unterbringung und Bezahlung. Er böte mir das dreifache Gehalt ohne zeitliche Begrenzung und eine Dreizimmerwohnung in Wanne-Eickel, wenn ich meine systemrelevante Tätigkeit unter seiner Ägide durch- und fortführte.
Eine Stunde später entfernten mich fünf Beamte der bayerischen Bereitschaftspolizei aus meinem Kellerquartier – samt Tritt ins Gesäß. Nicht so schlimm, dachte ich, und setzte mich in einen Zug nach Düsseldorf. Dort wollte man dann nie etwas von mir gehört haben …
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur